Maxine ist da!

Taschenbuch, 500 Seiten,
18,99 Euro, ISBN: 9783759800633
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»Und die Welt war schwarz. Sie war schwarz wie die Augen des Rehs, wie der große Geländewagen, wie das Plattencover von ›Blacknuss‹, wie die Musik von Roland Kirk, wie die Haare der Frau aus der Caféteria im Schlosskeller. Die Schwarzhaarige mit dem goldfarbenen Bikinioberteil von Dolce & Gabbana. Maxine. In IHR bewegte ER sich. In ihrer glutvollen Welt war er der selbstlose Kern.«

Die Geschichte beginnt in einer Sommernacht in naher Zukunft. Auf einer Party in München sorgt die neueste Initiative der Europäischen Union für Gesprächsstoff: Das HERO-Programm, dessen europaweite Einführung kurz bevorsteht, erfasst und evaluiert Nutzerdaten in den Bereichen Gesundheit (Health), Sozialverhalten (Equality), ressourcenschonende Lebensführung (Responsability) und Demokratiefähigkeit (Openness). Das digitale Steuerungsinstrument, das »uns alle zu Helden im Kampf um eine bessere Welt« machen soll, ist offenbar auch Gegenstand eines Streits gewesen, den meine Frau Ruth, ihre Freundin Vera und ein mir nicht näher bekannter Wissenschaftler in der Küche ausgetragen haben. Als ich auf das Trio stoße, fragt mich die sichtlich in die Enge getriebene Vera nach meiner Meinung zu HERO. Bevor ich mich äußern kann, spricht der Wissenschaftler das abschließende Machtwort: »Die Zahlen sprechen gegen dich, Vera«. Daraufhin stürzt die Dissidentin aus dem Raum und verschwindet in der Nacht. Ich laufe ihr nach, weil ich ihr eine Antwort schulde …

Doch was sagen? Dass wir dabei sind, uns zu Zahlenknechten zu machen, zu logischen Maschinen, zu Werkzeugen unserer Werkzeuge? Erst kürzlich hatte ich diese Fragen in einem Brief an zwei alte Freunde aufgeworfen und damit begonnen, die eigene Biografie in die Antwort einzubeziehen. Ich blicke auf die ländliche Welt, in die ich 1954 hineingeboren wurde. Logik, Technik und Rethorik formten diese Welt, aber die Kräfte der »instrumentellen Vernunft« beherrschten sie keineswegs total. Noch bildeten naturwüchsige Bindungen und kindliche Spontaneität einen Gegenpol. Bis in die 1970er Jahre hinein war ich beides: folgsam und frei, naiv und kritisch, arm und reich, »links« und »rechts«. In diesen interpolaren Spannungsfeldern fühlte ich mich heimisch; in der Kunstwelt der identitären Zuschreibungen indes, in die ich hineinwuchs, blieb ich ein Fremder. Wenn wir die Polarität von Vernunft und Kindlichkeit zerstören, denke ich – machen wir uns dann nicht als Menschen unmöglich? Von dieser Gefahr handeln die drei Essays, die ich den Freunden in separaten »Sendungen« zukommen lasse.  

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist der Wirklichkeitsverlust, den Hannah Arendt als »die größte Gefahr in der Moderne« ansah. Die Bedrohung ist real und akut, sehen wir uns doch eingeschlossen in einem wissenschaftlich modellierten, technologisch versorgten und medial aufgeladenen Erregungspanzer, der die Möglichkeiten zur freien Welterfahrung mehr und mehr einschränkt. Der gesunde Menschenverstand, der sich mühelos in ambivalente Sowohl-als-Auch-Verhältnisse einzufinden vermag, verliert an Bedeutung. An seine Stelle tritt eine extremistische Denkweise, die uns in jeder Lebenssituation binäre Entweder-Oder-Entscheidungen abverlangt. Das binäre Denken begreift polare Gegensätze (Ordnung und Chaos, Mann und Frau, Freiheit und Solidarität etc.) als logische Widersprüche (Ordnung versus Chaos, Mann versus Frau, Freiheit versus Solidarität etc.) und zwingt uns dadurch zur Identifikation mit dem Einen und zur Exklusion des Anderen. Indem sie das Nicht-Identische unterschlagen, erzeugen binäre Setzungen identitäre Ideologien und bilden die Keimzellen totaler Herrschaft. Unter dem Einfluss des binären Extremismus erstarrt Geschichte zum Mythos (erster Essay), gerinnen politische Anschauungsformen zu hermetischen Wahrheitssystemen (zweiter Essay), zerstören identitäts- und technopolitische Reinheitsfiktionen die Grundlagen der liberalen Demokratie (dritter Essay). Die Entwicklung nimmt ihren Lauf. Die im Panzer eingeschlossenen Menschen haben das Nachsehen. 

Von der Gefahr der Vereinseitigung handeln auch die biografischen Vignetten, die ich den Freunden nach und nach zusende. Aus Angst vor dem Verlust meiner Mitte breche ich das Mathematikstudium ab, löse meine Band auf und verweigere mich jeder echten Professionalisierung. Ich ziehe nach Hamburg, wo ich mich als Werbetexter verdinge. Später arbeite ich als Designjournalist in München. Ruth tritt in mein Leben. Meine Tochter Naima wird geboren. Ich komme über die Runden. Und doch fehlt es an allem. Denn der Platz, den ich zeitlebens behaupten wollte, ist in Wirklichkeit leer. Wo in aller Welt ist mein Platz? Anders gefragt: Wo ist Maxine? Die »Schwarzhaarige mit dem berühmten goldfarbenen Bikinioberteil von Dolce & Gabbana« ist mir oft über den Weg gelaufen, aber außer im Traum sind wir uns nie näher gekommen. Als ich eines Abends in naher Zukunft auf eine Party gehe, glaube ich, sie in Vera wiederzuerkennen. Auch deshalb laufe ich der Dissidentin nach …

Bevor sich alles findet, kehre ich schreibend in mein Heimatdorf Buchhagen zurück. Dort komme ich nach einer Besichtigung der mythischen Orte meiner Kindheit zu dem Schluss, dass sich vieles, aber bei weitem nicht alles zum Schlechten verändert hat. Berauscht von wilden Hoffnungen breche ich zu einer Nachtwanderung auf und begegne einem Reh, in dessen schwarzen Augen ich etwas Wundervolles wiedererkenne.