Bruchstücke II

The watchman, he lay dreaming
The damage had been done
He dreamed the Titanic was sinking
And he tried to tell someone
(
Bob Dylan, Tempest)

Mit Recht wird die Dekonstruktion des Augenscheins durch Isaac Newton als wissenschaftliche Großtat angesehen. Sie als Ursünde des modernen Denkens zu betrachten, ist dagegen ein wenig aus der Mode gekommen. Das Bild des vom Prisma in Spektralfarben zerlegten Sonnenlichts fasziniert uns als Erkenntnissymbol, aber dass an der dadurch repräsentierten Erkenntnismethode etwas faul sein könnte, will niemand mehr wahr haben. Ohne Zweifel zählt Newtons Optik zu jenen Pioniertaten, die den Konstruktivismus des wissenschaftlich-technischen Zeitalters ermöglichten, dem wir einen Großteil der Annehmlichkeiten des modernen Lebens verdanken. Waschmaschinen, Endoskopie und Energieversorgung, Autos, Computer und Internet gäbe es nicht ohne jenen Aufschwung des Ingenieurwesens, der nicht zuletzt durch die Mathematisierung der Physik und die experimentelle Zersplitterung der Erscheinungen ausgelöst wurde. Jeden Tag kommen neue Applikationen auf den Markt, die durch ihr Versprechen, das Alltagsleben zu erleichtern, indirekt die ihrer Entwicklung zugrunde liegende Erkenntnismethode zu rechtfertigen scheinen. Freilich hat dieses Verfahren nicht nur lustige Alltagshelfer, sondern auch problematische Dinge wie die Atombombe hervorgebracht. Die Dekonstruktion des Augenscheins führte in diesem Fall zur Konstruktion bestimmter Elementarteilchen und Funktionszusammenhänge, in deren Folge eine Waffe ins Leben gerufen wurde, die sich nicht mehr gegen Menschen, sondern gegen die Menschheit richtet. Vor dem Hintergrund einer solchen existenziellen (und natürlich noch immer virulenten) Bedrohung erscheint die Frage nach dem Wert der naturwissenschaftlichen Methode alles andere als trivial oder „rückwärts gewandt“. Ist in dem doppelten Ausgreifen auf Elemente und Funktionen, die jenseits der menschlichen Wahrnehmungsgrenze und außerhalb der menschlichen Erfahrungsmöglichkeit liegen, die Person als Bezugsgröße nicht längst verschwunden? Hat die Naturwissenschaft in ihrer technikgestützten Jagd auf kleinste Partikel und größte Zusammenhänge den lebendigen Menschen nicht längst aus dem Auge verloren? Lebendig sind wir nur als Personen, und Persönlichkeit ist kein Ganzes aus beliebig isolierbaren Elementen und daraus abgeleiteten Funktionen, sondern eine Einheit aus verschieden getönten und aufeinander bezogenen Eigenschaften. Als Persönlichkeiten gleichen wir lebenden Bildern, Liedern oder Gedichten, als Funktionsträger sind wir bloß auswechselbare Teile einer Maschinerie. Sowohl wir selbst als auch die Natur als das größte Ganze, dem wir staunend, ratsuchend, ängstlich und forschend gegenüberstehen, zählen in der Moderne nicht.

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Recht und Gesetz? Produktivkräfte sprengen jeden Rahmen, auch den der „Menschenrechte“. Dass selbst Satzungen wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde ständig revidiert werden, zeigen die bioethischen Debatten, in denen sich naturgemäß eher liberale und utilitaristische Positionen gegenüber strengeren deontologischen Standpunkten durchsetzen: Erlaubt soll sein, was nützlich und rechtens ist, letztlich also alles, was die Mehrheit in ihrer doppelten Eigenschaft als Markt-Gebieter und Gesetzgeber für nützlich und rechtens ansieht. In marktkonformen politischen Systemen bestimmen Masse und Marketing über die Grenzen des Machens, mit dem Effekt, dass gemacht werden wird, was gemacht werden kann.

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Das Landleben tue ihm gut, sagt Andreas. Er schwärmt vom Geruch des feuchten Grases am Morgen und von der Nähe des Himmels. Er unternehme jeden Tag ausgedehnte Spaziergänge und komme nie ohne Blumen, einen schönen Stein oder einen guten Gedanken heim. Ich weiß, sage ich. Dann erzähle ich ihm von meiner Kindheit auf dem Land, von unserem Garten, den Hühnern und den Schweinen. Bis in die 1970er Jahre hinein versorgten wir uns weitgehend selbst, sage ich, und weil mein Gegenüber mich so ungläubig anschaut, füge ich noch keck hinzu: Meiner Ansicht nach ist die Subsistenzwirtschaft kein obsoletes Modell, sondern eine vernünftige Perspektive für uns alle. Schweigen. Dann sagt Andreas, dass er das Land und das einfache Leben zwar liebe, aber keinesfalls auf die Errungenschaften der Moderne verzichten möchte. Seine Zweifel an der Tragfähigkeit meines Standpunkts drückt er in einem prägnanten Bild aus. Die guten alten Zeiten? Da habe er eine greise, abgezehrte Bäuerin vor Augen, die sich in einer dämmrigen Stube über einen Teller aus Steingut beugt, aus dem sie mit einem Holzlöffel ihre dünne Suppe schöpft. Der Löffel sei genauso alt wie die Frau, vielleicht sogar noch älter. Jedenfalls habe sie nie in ihrem langen, entbehrungsreichen Leben ein anderes Esswerkzeug besessen. Seit Jahrzehnten schrappe sie Tag für Tag mit dem Löffel über den Tellerboden. Und von dem vielen Kratzen sei die Unterseite des Löffels schließlich ganz glatt und dünn geworden. – Der abgeplattete Löffel als Sinn- und Schreckbild für das harte, eintönige, freudlose, arme Leben, dem wir glücklich entronnen sind. Es ist ein wunderbares Werbemotiv. Allerdings wirft es auch ein bezeichnendes Licht auf eine Denkweise, die nur Schwarz und Weiß, aber keine Grauwerte kennt. Schien denn wirklich niemals die Sonne in die Bauernstube? War die Frau niemals jung? Sitzt nicht vielleicht gerade jetzt der Mann neben ihr, mit dem sie vier, sechs oder acht Kinder groß gezogen hat? Löffeln sie tatsächlich eine wässrige Suppe oder nicht vielleicht doch den allerbesten Erbseneintopf weit und breit? Ich meine: Man kann mit abgeplatteten Löffeln ebensolchen Kitsch verbreiten wie mit Kirchtürmen vor goldenen Abendhimmeln. Die schlechten alten Zeiten sind geradeso ein Klischee wie die guten. Nein, Andreas. Die Uhr tickt immer weiter. Ich sprach von der Subsistenzwirtschaft als einer Perspektive.

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