Wen hörst du?

„Es war eine Zeit aus erster Qualität – wie echte chinesische Seide“ André Heller

„Dir soll es mal besser gehen als uns.“ Natürlich kapierte ich schon als Kind, was meine Eltern damit meinten. Sie hatten ja Krieg, Gefangen­schaft und überhaupt schlimme Zeiten durchlitten und wollten, dass ich so etwas nicht erleben muss. Sie waren ja in vielerlei Hinsicht unfrei gewesen und wollten mir ein freies, selbst be­stimmtes Leben ermöglichen. Das verstand und respektierte ich – leiden mochte ich den Spruch trotzdem nicht. Wahrscheinlich störte mich das Wörtchen „soll“, das den oft geäußerten Wunsch zuweilen wie einen Befehl klingen ließ. Und ein Imperativ, die Aufforderung nämlich, immer schön brav und fleißig zu sein, damit aus mir „mal etwas werde“, steckte ja wohl auch dahinter. Vielleicht hatte ich es nötig. Einen inneren Druck jedenfalls, mich aus einem irgendwie gearteten Elend herauswinden zu müssen, verspürte ich keineswegs. Ging es uns doch damals, Ende der fünfziger Jahre, schon überaus gut. Konnte es einem überhaupt noch besser gehen? Das frage ich mich heute, ernüchtert auf den Optimierungsrausch der vergangenen Jahrzehnte zurückblickend,  wieder.

Wir lebten auf dem Land in einem so genannten Siedlungshaus. Meine Eltern und Großeltern hatten 1948 mit dem Bau begonnen, den Dach­stuhl bezahlten sie mit Schinken und Würsten, weil die Währungsreform ihnen die Ersparnisse geraubt hatte. Mit dem Einzug in die eigenen vier Wände erfüllte sich der Traum ihres Lebens. Ganz ähnliche Traumhäuser entstanden damals zu Hunderttausenden in Deutschland. Das Siedlungs­haus war sozusagen das Standardmodell der ländlichen Nachriegsmoderne. Doch indem es Stilmerkmale und Raumprogramm eines schlichten Bürgerhauses mit der Funktionalität einer Bauernkate kombinierte, war es zugleich zugeschnitten auf eine geradezu mittelalterliche Lebens- und Produktionsweise. Die Steige­rung des Wohnkomforts, ein großes Thema bei der bürgerlichen Architektur, spielte für die ländlichen Bauherren damals nur eine untergeordnete Rolle. Wie unsere Nachbarn begnügten auch wir uns mit einem Plumpsklo, badeten in einer portablen Zinkwanne, heizten die Wohnräume mit Kohleöfen und kochten auf einem altertümlichen, mit Holz befeuerten Herd. Dafür boten Haus und Grundstück andere Vorzüge. Kühle Lagerräume im Keller zum Beispiel, eine Wasch­küche oder einen Trockenboden. Besonders wichtig war der Anbau, der einen Stall mit darüberliegendem Heuschober beherbergte. In dem Stall mästeten wir Schweine. Im Gehege hinter dem Haus hielten wir Hühner. Im großen Nutzgarten bauten wir Kartoffeln, Salat und Gemüse an.

Mein Vater arbeitete seit Mitte der fünfziger Jahre als Schichtmeister in einer nahe gelegenen Fabrik – für ein im Vergleich zu heutigen Verhältnissen lausiges Gehalt. Trotzdem mangelte es uns nie an Geld. Und zwar einfach deshalb, weil wir größtenteils selbst produzierten, was wir zum Lebensunterhalt benötigten. Wirtschaftskrisen? Harte Winter? Dergleichen konnte uns nicht schrecken. Im Spätherbst, nach der Erntesaison und dem Schlachttag, hing der Keller voller Würste, die Regale bogen sich unter der Last der Konserven. Es gab Erbsen, Bohnen und Fleisch in Dosen, Essiggurken, Marmelade und Kompott in Einmachgläsern, süßsauer eingelegte Birnen und Sauerkraut in Gröppen genannten irdenen Gefäßen. Hinzu kamen große Mengen an eingelagerten Kartoffeln, Zwiebeln und Möhren. Wir zehrten von den Vorräten bis weit nach Ostern, sie reichten für eine sechsköpfige Familie, zwei Ferkel und zehn Hühner.

Zugegeben, es machte unglaublich viel Arbeit, seine Vorratskammern auf diese altmodische Art und Weise zu füllen. Andererseits war die Arbeit bei weitem nicht so eintönig und freudlos, wie man sie sich als Stadtmensch vorstellen mag. Mir jedenfalls machte es mitunter Spaß, Holz zu hacken, Äpfel zu pflücken, den Stall auszumisten oder Zwetschgenmus zu kochen. Selbst das Schlachten fand ich, na ja, zumindest aufregend. Aus heutiger Sicht scheint mir aber vor allem der psychosoziale Gewinn, den wir aus der Sache zogen, fast alle Mühen wert zu sein. Gesundheit, Genuß und Gewissen sind die Stichworte. Jedes Kind weiß oder kann es leicht begreifen, dass die Arbeit draußen an der frischen Luft den Körper kräftigt und den Kopf frei macht; dass Äpfel aus dem eigenen Garten ungleich besser schmecken als gekaufte; dass die Produktion der Lebensmittel auf eigenem Grund die denkbar beste Ökobilanz aufweist. Das Allerbeste freilich ist der Freiheitsgewinn. Und frei von den meisten Formie­rungszwängen, denen die Masse der „Markt­teilnehmer“ sich aus Sorge um die Existenzsicherung unterwerfen muss, waren wir damals tatsächlich. Frei von Konsumzwang und Krawattenzwang. Frei von jenen Konformismen der Meinung, des Verhaltens und des Geschmacks, die der Spießbürger mit Kultur zu verwechseln pflegt. So viele schräge und lustige Vögel, so viele Eigenbrödler und Selbstdenker wie noch vor vierzig Jahren auf dem Lande habe ich seither nicht mehr auf einem Haufen gesehen.

Grundeigentum ist eine schöne Sache. Doch das System selbst, die auf Subsistenzwirtschaft gestützte Lebensweise, funktioniert auch ohne. So hatten bereits meine Großeltern, die lange in einem vom örtlichen Guts­besitzer errichteten Landarbeiterhaus lebten, Gemüse für den Selbstverbrauch angebaut, sie hatten auch eigene Schweine, Ziegen, Enten und Hühner gehalten. Statt Miete für das Wohnrecht und Pacht für die Gartennutzung zu bezahlen, leisteten sie auf dem Gutshof Hand- und Spanndienste. Selbstverständlich waren sie nicht leibeigen, sie genossen alle bürgerliche Freiheiten, und das Einkommen meines Großvaters (er hatte es schließlich zum Beamten bei einer in den zwanziger Jahren gegründeten Privateisenbahn gebracht) setzte der Abhängigkeit vom Grundherrn deutliche Grenzen. Dennoch: Vormo­derne Einstellungen und Strukturen prägten die Welt, in die ich hineingeboren wurde.

Wenn einem Erwachsenen ein fremdes Kind über den Weg lief, erkundigte er sich nicht nach dem Namen des Kindes, sondern fragte: „Wem gehörst du?“ (eher noch: „Wen hörst du?“) Wir gehörten unse­ren Vätern. Und während der Kartoffelernte gehörten wir dem Groß­bauern, beim Konfirmandenunterricht dem Pastor, in der Schule dem Lehrer. Andererseits gehörten wir diesen Herren nicht mehr mit Haut und Haar. Und sie schwangen nur noch selten den Rohrstock, viel­mehr schickten sie uns auf höhere Schulen, entlohnten die Feldarbeit, brachten uns das Posaunenspielen bei, gaben uns Gedichte von Schiller, Heine und bisweilen sogar Brecht zu lesen. Die vielge­schmähte Rückständigkeit des Landes: Es gab sie, aber wir hatten mächtig aufgeholt in Sachen Toleranz, Bildung, Weltläufigkeit. Leider gibt es keinen Fortschritt ohne Fehltritt – mit teils langwierigen, schmerzhaften Folgen. Die Preisgabe der dörflichen Basisdemokratie ist ein Beispiel. Vor der unseligen Gemeindereform der siebziger Jahre, die das kommunale Selbstverwaltungsrecht zahlloser kleiner Weiler praktisch aufhob, war Demokratie eine konkrete Erfahrung für die Landbevölke­rung, kein abgehobenes Prinzipienwissen. Wir selbst beschlossen die Maßnahmen, die uns zur Verbesserung der Lebensqualität notwendig erschienen. Und wir selbst führten sie durch. Dazu gehörte in meinem Dorf etwa die Instandhaltung der kommunalen Wasserleitung (wir bezogen unser Trinkwasser tatsäch­lich noch aus einer eigenen Quelle).

Es war die Mischung, das Ineinandergreifen von mittelalterlichen und modernen Institutionen und Freiheiten, die das Landleben damals kennzeichnete und die mir heute, im Rückblick, so ungeheuer reizvoll erscheint. Kartoffelacker und Hühnerstall gehörten zu dieser Kon­stellation ebenso wie Fabrik und Eisenbahn, also Einrichtungen des Industriezeitalters, die dem Landvolk Einkommensmöglichkeiten jen­seits der Feldarbeit boten.

Inbegriff dieser liebenswerten Synthese war die nahe gelegene Land­stadt. Zwar hatte sie bereits viel von ihrem mittelalterlichen Charme eingebüßt; manche Fachwerkfassade (sogar das schmucke Rathaus aus der Biedermeierzeit) war dem Reinheits- und Rationalisie­rungsfaschis­mus der Moderne zum Opfer gefallen. Doch andererseits standen ihr manche Neuerungen (große Schaufenster zum Beispiel) ganz gut zu Gesicht. Die kosmetischen Operationen hatten ohnehin nichts an ihrem Wesen geändert. Sie war die alte Verführerin geblie­ben. Uns lockte sie mit marrokanischen Orangen und italienischem Eis, mit Schallplatten und Nietenhosen, mit Kinos, Kneipen und Konzerten. Ein Provinznest war sie und doch ein mythischer Ort, ein urbanes Zentrum – jedenfalls keine auf „Märchenstadt“ getrimmte Marke wie heute, wo ausnahmslos traurige Gespenster durch die Romantikkulisse schlurfen.

Geerdet und auf der Höhe der Zeit: Kann es einem überhaupt noch besser gehen? Ich denke, ja. Zum Beispiel mit einer vollautomatischen Waschmaschine statt des Waschzubers im Keller. Vielleicht auch mit einer Tiefkühltruhe als Ersatz für Konservendosen. Unverzichtbar wäre auch eine schnelle Internetverbindung, die einem viele reale Wege, unter anderem Arbeitswege, erspart. Wo Industriebetriebe abgewandert sind, bleiben immerhin Computerarbeitsplätze. Warum man sie immer noch fast ausschließlich in großstädtischen Büroge­bäuden konzentriert, ist nicht einzusehen. Digitale Netzwerke ermög­lichen bekanntlich die Entflechtung der Arbeitsstrukturen, letztlich begünstigen sie die Rekolonisierung des Landes. Einige digitale Proletarier, vor allem aus der Medienbranche, nutzen diese Chance bereits. Sie arbeiten unter Birnenbäumen statt in Bürobunkern. Die meisten jedoch hocken weiterhin in miefigen Glaskäfigen, wenn sie nicht schon auf der Straße sitzen.

Die Existenz- und Sinnkrise, die uns seit langem bedrückt, hat bislang kaum jemanden zum Umdenken bewogen. Vermag es die gegen­wärtige Wirtschaftskrise? Noch setzen viele große Hoffnungen in die Heilkräfte des Marktes, die Wundermittel des Staates, die Visionen der Globalisten; noch meinen viele, die Zukunft werde nach ein paar harten Monaten oder Jahren wieder, wie sie war. Ein El Dorado für die Hidalgos des Kapitals. Ein Avalon für die Gralssucher aus Tech­nik und Wissenschaft. Eine pädagogische Provinz für Bildungs­philister. Ein Schlaraffenland für linke Träumer. Und eine bunte Spielhölle für den riesigen, den nach Milliarden zählenden Rest. Mitspielen oder bespielt werden: Wem diese Alternative nicht behagt, sollte sich nach anderen Optionen umsehen. Das Land bietet nicht nur grün gesinnten Auf- und Aussteigern eine Perspektive, sondern auch ganz normalen Geringverdienern und Hartz-IV-Empfängern, Halb­bohémiens und Dreiviertelkünstlern. Landauf landab sind verwaiste Geschäfte, verlassene Häuser, brach liegende Gärten und Felder billig zu haben. Die Gelegenheit war nie günstiger, auszuwandern ins eigene Land. Aber was rede ich. Solange es nicht um die Wurst geht, dringen Apelle nicht durch. Am Ende wird es wohl der Imperativ der leeren Kassen und des knurrenden Magens sein, der uns eines Besseren belehrt.

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