Ein übergriffiger Vergleich

Eine Antwort auf den Artikel »Die Rückkehr der Menschenfeindlichkeit« des Sozialpsychologen Harald Welzer, erschienen in der ZEIT vom 30. Mai 2018:

Zunächst eine wichtige Mitteilung: Ich betrachte Harald Welzer als einen Bruder im Geiste. Mit seiner Kritik des Digitalismus (»Die smarte Diktatur«, 2016) hat er mir aus der Seele gesprochen. Seine Fragen an die Geschichte des Nationalsozialismus (»Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden«, 2005) sind immer auch die meinen gewesen. Sein zivilgesellschaftliches Engagement für die »offene Gesellschaft« schließlich nötigt mir so viel Respekt ab, dass ich ihm nur höchst ungern widerspreche. Aber es muss sein. Mit seinem in der ZEIT vom 30. Mai erschienenen Aufsatz »Die Rückkehr der Menschenfeindlichkeit« hat Welzer seinem eigenen aufklärerischen Anliegen einen Bärendienst erwiesen. Zwar fordert er zu Recht, Menschenfeindlichkeit da zu bekämpfen, wo sie sich konkret zeigt. Indem er jedoch praktisch jede Form restriktiver Migrationspolitik als menschenfeindlich brandmarkt, schießt er weit übers Ziel hinaus. Implizit tut er das, was er den Einwanderungsskeptikern vorwirft: Er macht Menschen verächtlich.

An dieser Einschätzung hat auch Alexander Gaulands »Vogelschiss«-Rede vom zweiten Juni nichts geändert, obwohl die fortgesetzten Provokationen des AfD-Vorsitzenden Welzers These zu bestätigen scheinen. Zweifellos befördert Gauland mit seinen ätzenden Einlassungen einen geschichtspolitischen Diskurs, den man für bedenklich halten kann. Aber trägt er damit auch zur schleichenden Veränderung moralischer Normen bei? Welzer glaubt fest daran, behauptet er doch, dass die »selbstverständlichen Annahmen darüber, wie man mit Menschen umgeht«, sich hierzulande in den letzten Jahren gewandelt hätten – und zwar in erster Linie durch die AfD-Rethorik, aber nicht nur durch sie. Schuld an der »Konsensverschiebung« sei vor allem der allgemeine Rechtsruck in der Debatte um die Flüchtlingspolitik. Für die Drift nach Rechts nennt der Autor zahlreiche Beispiele. Alexander Dobrindts einfältigen Aufruf zur »konservativen Revolution«. Christian Lindners »Ausländer beim Bäcker«-Gedankenspiel. Markus Söders Kreuz-Verordnung. Die nicht zuletzt von Prominenten wie Uwe Tellkamp und Neo Rauch befürwortete »Gemeinsame Erklärung 2018«. Ferner würden inzwischen gängige Redeweisen von »Masseneinwanderung«, »Wirtschaftsflüchtlingen« oder »Kulturfremden« dazu beitragen, Vorurteile und Ressentiments auch dort zu verstärken, wo derlei Worte lediglich diskursive Waffen darstellten, die kaum etwas mit der Wirklichkeit zu tun hätten.

Nun sind die Fakten ja nicht von der Hand zu weisen. Es gibt die beschriebene Drift. Und es gibt die Wiederkehr der Feindschaft in der Politik. Es gibt den Hass, der auf beiden Seiten der Front das Denken und Sprechen vergiftet. Es gibt haarsträubende Äußerungen und Aktionen wie etwa die »Denkmal der Schande«-Rede des Politikers Björn Höcke oder die gegen den Privatmann Björn Höcke gerichtete Kunst-Intervention des »Zentrums für politische Schönheit«. Und ja, es gibt es auch kriminelle Handlungen, durch die eine ideologisch verbrämte Menschenfeindlichkeit sich Bahn bricht.

Wo Verbrechen geschehen, müssen sie angezeigt und geahndet werden. Aber die Rechte pauschal und vorsorglich zu einer verbrecherischen Vereinigung zu erklären, geht nicht an. Wer in der deutschen Geschichte mehr erkennen will als eine Vorgeschichte des Nationalsozialismus, wer von der Gesamtheit der deutschen Staatsbürger weiterhin als von einem Volk sprechen möchte, wer sich als Europäer in der Tradition des romantischen Nationalismus beheimatet weiß, wer den Nationalstaat und seine Errungenschaften gegen einen alle kulturellen Besonderheiten nivellierenden Weltmachtapparat verteidigt, ist nicht gleich ein Nazi. So jemand ist vielleicht ein nationalliberaler oder stockkonservativer Demokrat, ein Antimodernist, ein Reichsnostalgiker, ein Law-and-Order-Mann, ein Anhänger der identitären Bewegung, aber nicht unbedingt ein Nazi. Nazis, das waren Parteigänger des Teufels, in dessen Namen sie direkt oder indirekt an der Ermordung von Millionen Menschen mitwirkten. Wer heute nichts dabei findet, dieses Etikett einem engagierten Bürger wie dem Chef der Essener Tafel anzuheften, darf sich nicht wundern, wenn gewisse Leute damit nichts Schimpfliches mehr verbinden oder ganz Naive auf die Idee kommen, das Wort bezeichne womöglich einen besonders guten, sozial eingestellten Zeitgenossen.

Dass die Nazi-Keule immer häufiger daneben trifft, bedeutet freilich nicht, dass sie zu gar nichts mehr taugt. Harald Welzer sagt es selbst: »Vergleiche mit dem Nationalsozialismus sind erlaubt. Sie sind sogar notwendig, wenn man gesellschaftliche und normative Veränderungsprozesse einordnen und in ihrer Bedeutung abschätzen möchte«. Das Ergebnis seiner Abschätzung fällt erschreckend aus: Im Verlauf der 1930er Jahre wurde »eine moderne Demokratie in eine diktatorische Ausgrenzungsgesellschaft transformiert« und »Vergleichbares erleben wir seit mehr als zwei Jahren in Europa und leider auch in Deutschland«. Die Transformation erfolge schleichend. Angestoßen und befördert würde sie von Akzentverschiebungen in der öffentlichen Rede. Dadurch dass demagogische Begrifflichkeiten den Diskurs mehr und mehr bestimmten, würden sich auch allgemein akzeptierte moralische »Wahrheiten« nach und nach verändern – wie in den 1930er Jahren tatsächlich geschehen: Damals wurden Menschen, die immer als Mitbürger gegolten hatten, mit einem Mal als Volksfremde wahrgenommen, deren Lebensberechtigung zur Debatte stand!

Greift solche eine Verwahrlosung auch heute um sich? Sind Asylsuchende aus Syrien oder Afghanistan wirklich ähnlichen Anfeindungen ausgesetzt wie deutsche Juden in den Jahren 1933, 1938 oder gar 1942? Ist der damalige Wille zur Ausgrenzung tatsächlich mit der heutigen Skepsis gegenüber einer unbeschränkten Eingrenzung zu vergleichen? Die Wortwahl deutet es an: Der Vergleich ist nicht statthaft, denn es handelt sich um zwei völlig verschiedene Dinge. Bei den Nazis ging es um das schiere Dasein von Mitbürgern, das in Zweifel gezogen wurde; heute geht es um den bürgerlichen Status von Ausländern, der geklärt werden soll. Menschenrechtliche und bürgerrechtliche Fragen in der Weise zu vermengen, wie Welzer es tut, trägt nicht zur Versachlichung der Debatte bei. Im Gegenteil. Die ideologische Voreingenommenheit, gegen die er anzuschreiben vorgibt, befeuert er noch.

Dass Welzer diese Einschätzung nicht teilen wird, dürfte mit seinem relativistischen Wahrheitsbegriff zusammenhängen. »Wahrheit ist eine Funktion sozialer Übereinkunft«, schreibt er. Wer diesen Grundsatz ironiefrei vertritt, hängt in erkenntnistheoretischer Hinsicht natürlich immer in der Luft und sieht keinen anderen wirksamen Schutz vor dem Rückfall in die Barbarei als das Netz der Sprache. Dass es stets politisch korrekt gespannt sein muss, ist aus konstruktivistischer Perpektive eine Frage auf Leben und Tod. Nur leider vergessen Konstruktivisten gelegentlich, dass sie selbst zu den Netzspannern gehören und als solche auch schon mal ihre eigene Moral zum allgemeingültigen Maßstab des Guten erklären. Diese Übergriffigkeit widerspricht nicht zuletzt den Prinzipien der »offenen Gesellschaft«. Was soll ich noch sagen? Mach mal halblang, Bruder.