Liebe Sprecherinnen und Sprecher

Was soll ich schreiben? Die Sprecher, die Sprechenden, die SprecherInnen, die Sprecher*innen? Dx Sprechx? Um die Frage zu kären, ist es vielleicht hilfreich, sich einige sprachwissenschaftliche Erkenntnisse in Erinnerung zu rufen. Dazu gehört die Beobachtung, dass die Verbindung zwischen einem Namen (etwa der Lautfolge „Baum“) und seiner Bedeutung (etwa die Vorstellung eines Baumes) keineswegs natürlich ist; vielmehr legt die Sprachgemeinschaft willkürlich fest, was Worte bedeuten sollen – wobei die realen Eigenschaften der Objekte bei der Benennung eigentlich keine Rolle spielen (ein Baum kann „Baum“ heißen, aber auch „arbre“ oder „tree“). Ein anderer linguistischer Grundsatz besagt, dass die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens weniger durch die Gestalt des Zeichens selbst als durch die Konstellation der umgebenden Zeichen festgelegt ist.

So kann „Läufer“ je nach Kontext ein Mensch sein, eine Schachfigur oder ein Teppich; „Scheiße“ kann auf Exkremente verweisen, kann Missbilligung oder Enttäuschung anzeigen, kann aber auch im Gegenteil Staunen und Anerkennung zum Ausdruck bringen („Scheiße, nee!“, etwas ist scheißgut). Entsprechend hängt auch die Bedeutung von Wörtern wie „Frau“ oder „Mann“ von den Kontexten ab, in denen wir sie benutzen. „Frau“ kann als Begriff den weiblichen Menschen im Allgemeinen meinen, kann aber auch als Anredefloskel auf die eine, konkrete Person bezogen sein, die mir vielleicht in diesem Augenblick als Chefin, Verkäuferin oder Passantin gegenübersteht. Im zweiten Fall bedeutet das Wort „Frau“ zunächst einmal fast gar nichts, weil es die situativen und intentionalen Bedingungen sind, die das kommunikative Geschehen bestimmen – und nicht ein sprachliches Partikelchen. Das sprachliche Partikelchen „Frau“ bzw. „Herr“ reflektiert lediglich den unzweideutig wahrgenommenen Unterschied zwischen einem weiblichen oder männlichen Gegenüber (sollte dieser Unterschied aus irgend einem Grund nicht erkennbar sein, wird man die Wörter „Frau“ oder „Herr“ tunlichst vermeiden).

Natürlich kann das Wort „Frau“ im Verlauf der Unterhaltung eine differenzierte Bedeutung erlangen, indem ich ihm zum Beispiel einen höflich-distanzerenden, herzlichen, devoten oder abschätzigen Sinn beilege. Allgemein gilt jedenfalls: In den Sprachspielen der konkreten Kommunikation ist die lexikalische Bedeutung eines Wortes allenfalls so etwas wie ein ruhender Ball, während die tatsächliche Bedeutung durch die Sprecher festgelegt wird, indem sie den Ball so oder so führen.

Wenn ich „Sprecher“ sage, kann das selbstverständlich auch vielerlei bedeuten: den oder die männlichen Sprecher, aber auch die weiblichen Sprecher oder die menschlichen Sprecher. Dabei ist klar: Dass wir für geschlechtsübergreifende Bezeichnungen im Deutschen immer noch vorwiegend die maskuline Form der Substantive verwenden (generisches Maskulinum), ist ein Beispiel für die sprachliche Konservierung jahrhundertelanger patriarchaler Verhältnisse. Zu Recht weisen uns Feministinnen auf diese Tatsache hin. Andererseits konserviert die Sprache eine Fülle von Festlegungen, über deren ursprüngliche Bedeutung sich so gut wie niemand mehr im Klaren ist und sein muss, weil die Formen längst für etwas anderes stehen. Die Sprache wandelt sich. Und sie wandelt sich nicht nur in dem Sinne, dass alte Formen durch neue ersetzt werden, sondern auch dadurch, dass alte Formen neue Bedeutungen annehmen. Die „Dirne“ war vorgestern ein junges Mädchen, gestern war sie eine Prostituierte, heute ist sie in der bayerischen Variante „Dirndl“ ein Kleid. Der „Herr“ war einmal Gott, heute ist er eine aussterbende Höflichkeitsfloskel. „Begabung“ war einmal ein Geschenk, heute ist sie ein genetisches Mitbringsel. „Kultur“ bezog sich einmal auf Ackerbau, heute bezieht sie sich auf den Kunstbetrieb oder auf Lebensformen.

Auch die herkömmliche Form zur Bezeichnung geschlechtsübergreifender Gruppen hat einen Bedeutungswandel erfahren: Der Ausdruck „Die Sprecher“ bezeichnete einmal Menschen, heute kennzeichnet er darüber hinaus den, der ihn gebraucht, als sprachkonservativen Menschen. Zwar ist Sprachkonservatismus aus unkritischer Treue zu einem Prinzip oder einer Tradition eine zweifelhafte Tugend (siehe oben), aber manchmal sprechen eben gute Gründe für das Prinzip und die Tradition.

  1. „Die Sprecher“ ist einfacher und schöner als „die SprecherInnen“ oder „die Sprecher*innen“ (praktisch-ästhetisches Argument).
  2. „Die Sprecher“ wird von allen Sprechenden völlig mühelos kontextbezogen, also adäquat verstanden (strukturalistisches Argument).
  3. „Die Sprecher“ ist immer noch die in der Bevölkerung vorherrschende Form, während neue Formen lediglich von Minderheiten ins Spiel gebracht werden (demokratisches Argument).
  4. „Die Sprecher“ ist eine Oberfläche mit sprachgeschichtlicher Tiefe, während neue, künstliche Formen zwar etwas bedeuten, aber nichts zum Klingen bringen (sentimentalisches Argument).
  5. „Die Sprecher“ bezeichnet eine Menge sprechender Menschen ohne Ansehen des Geschlechts, während kombinierte Ausdrücke wie „SprecherInnen“ oder „Sprecher*innen“ auch dort geschlechtlich differenzieren, wo Menschen tatsächlich als Menschen angesprochen werden sollen (logisch-humanistisches Argument)

Am trifftigsten ist vielleicht das strukturalistische Argument. Alle Welt kommt mit dem Sprechen und den „Sprechern“ völlig problemlos zurecht – außer jenen Intellektuellen, die nur den Ball sehen und nicht das Spiel.