Wider das totale „Wir“

Mehr als vor den angesagten Naturkatastrophen fürchte ich mich inzwischen vor denen, die sie unbedingt vereiteln wollen. Im Blick habe ich dabei allerdings nicht jene vorausschauenden Zeitgenossen, die sich klugerweise für konkrete Notfälle wappnen. Nein, es sind die Verfechter eines totalitären Humanismus, vor denen mir graut. Es sind die Leute, die lieber heute als morgen den allgemeinen Notstand ausrufen würden. Warum? Die von Humanisten seit eh und je erträumte emanzipative Herauslösung des Menschen aus dem Reich der Natur lässt sich nur vollenden, wenn den Menschen glaubhaft erklärt werden kann, ihre eigene Natur (naturwüchsige thymotische Energien wie Gier, Gefallsucht, Zorn etc., aber auch die mystische Lust zur Hingabe, Entäußerung, Verausgabung etc.) sei ein tödliches Umweltgift.

Die »menschengemachte Umweltkatastrophe« ist solch ein unschlagbares Argument. Es erhebt die teuflische Reinheitsfiktion einer völligen Entnaturalisierung der Menschheitsgeschichte zur alternativlosen Überlebensstrategie.

Die unabdingbare Voraussetzung zur Umsetzung dieser Strategie ist aber der globale Notstand, denn er allein rechtfertigt weltweit wirksame Rationalisierungsmaßnahmen von äußerster Effizienz. Träte er tatsächlich ein, wäre mit der Errichtung einer Regulierungsdiktatur nach chinesischem Vorbild zu rechnen, weil letztlich wohl nur solch eine zugleich sanfte und unerbittliche Technokratie es erlauben würde, die Weltbevölkerung zum koordinierten Handeln im Sinne eines totalen Kriegs gegen »den Weltuntergang« zu bewegen. Die Folgen für das Menschengeschlecht wären gravierend. An die Stelle von Gesetzen, Normen, Prinzipien und Gebräuchen zur einhegenden Kultivierung der freien menschlichen Natur träten dann systemtechnische Verfahren zur direkten Modellierung menschlichen Verhaltens.

Der Einschluss in dieses – naturgemäß im Namen der »Vernunft« etablierte – Zwangssystem würde mich als Person vernichten. Subjektivität und Welthaltigkeit, Freiheit und gesunder Menschenverstand, Eigensinn, Charakter, Schönheit und Würde wären dahin. Freilich, ich bliebe womöglich am Leben. Und einen phänomenalen Ersatz für die geraubte Individualität hätte der universalistische Apparat auch zu bieten. Das Angebot lautet: »Wollt ihr das totale Wir?« Im allgemeinen Ermächtigungsrausch müsste ich wohl oder übel in das frenetische Ja-Geschrei der gleichgeschalteten Gattungswesen einstimmen – es sei denn, ich suchte das Weite und finge in einem vergessenen Weltwinkel ganz von vorn an. 

Beinhahe jede private oder öffentliche Einlassung zu den »brennenden Themen unserer Zeit« gipfelt heute in dem Aufruf: »Wir müssen handeln!« Bundeskanzlerin Angela Merkel nutzte die rhetorische Floskel beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier führt sie ständig im Munde. Sie schmückt Compliance-Erklärungen, päpstliche Enzykliken, Leitartikel, Werbebroschüren und wissenschaftliche Bulletins. Abwandlungen und Spezifizierungen des Apells finden sich in so großer Zahl im Internet, dass eine fünfminütige Recherche Dutzende davon zu Tage fördert. »Wir müssen dafür sorgen, dass der Weg zu einer CO2-Neutralität unumkehrbar wird«, sinniert Wirtschaftsminister Peter Altmeier. »Wir müssen innovative Maßnahmen zur Minderung von Treibhausgasemissionen forcieren«, lässt das Ministerium für Bildung und Forschung verlauten. »Wir müssen jetzt aufwachen und uns der Tatsache stellen, dass wir als nächstes betroffen sein könnten«, schreibt Der Tagesspiegel. »Wir müssen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz miteinander kombinieren«, doziert der Klimaforscher Mojib Latif. »Wir müssen erheblich ins Klima investieren«, sagt die Klimaforscherin Friederike Otto. »Wir alle müssen uns einbringen«, ruft die Ökonomin Claudia Kemfert. »Wir müssen endlich aufhören dumme Fragen zu stellen«, raunt es aus dem Magazin Der Stern. »Wir müssen radikal anders leben«, fordert der Ingenieur Volker Quaschning. 

Müssen wir wirklich? Und wer ist eigentlich »Wir« in all diesen Aufrufen? 

Je nach Anlaß der Rede und angesprochenem Publikum meint das »Wir« wohl manchmal einen begrenzten Kreis von Akteuren. Wenn die »mächtigste Frau der Welt« vor den in Davos versammelten Magnaten sagt: »Wir müssen handeln«, fordert sie damit vielleicht vor allem sich und die anwesenden Magnaten zum Handeln auf. Wenn der Wirtschaftsminister ein Politikziel mit den Worten »Wir müssen …« verkündet, will er damit wohl vor allem seine Kabinettskollegen, vielleicht auch die »politische Klasse« auf das Ziel einschwören. Doch natürlich weist das »Wir« in den meisten der genannten Sätze über den Kreis der unmittelbar Angesprochenen weit hinaus. Die enorme Strahl- und Bindekraft des Apells hat mit der Universalität der angeführten Probleme zu tun. Weil sie nach einem universalen Problemlöser verlangen, sollen »wir alle« uns angesprochen und einbezogen fühlen. Und »wir alle« heißt: Wir, die Menschen.

Das Gattungswesen Mensch, seit Urzeiten Gegenstand philosophischer Betrachtungen, wird neuerdings immer häufiger als Handlungssubjekt adressiert. Nicht zuletzt liegt das wohl daran, dass »der Mensch« offenbar »zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist« (Wikipedia). Genau diesem Umstand trägt die Epochenbezeichnung »Anthropozän« (Zeitalter des Menschen) Rechnung. Vor rund zwanzig Jahren von einigen Geowissenschaftlern geprägt, verweist der Name eigentlich nur auf ein Bündel heikler, vieldeutiger, teils auch alarmierender Tatsachen.

Furore machte er jedoch als Zauberwort. Wer es in den Mund nimmt und seinen hohen Sinn schluckt, durchlebt eine wunderbare Metamorphose: Eben noch ein erdverwachsenes Exemplar der Gattung Homo Sapiens, schwebt man jetzt als Homo Deus weit über den Dingen. Als gottgleicher Weltgestalter fühlt man sich verantwortlich für Alles – aber eben auch fähig zu Allem. Das Anthropozän ist deshalb die Hölle für mystisch begabte Taugenichtse wie dich und mich, aber das El Dorado für Designer, Künstler, Ingenieure, Innovateure, Entreprêneure und totalitäre Ideologen. Da diese Leute glauben, schlechthin alles ließe sich gestalten, sehen sie schlechthin alles als bloßen Rohstoff an. Historisch geprägte Lebenswelten, unendlich reiche Kulturlandschaften, Himmel und Erde, Völker, Geschlechter, die Elemente, die gesamte Wirklichkeit, das Leben selbst: Alles, was ist, dient ihnen lediglich als Ressource für etwas anders. Der infinite Gestaltungsprozess, in den sie alles Seiende hineinziehen, schwemmt alles Objektive, alles Bestehende, alle Welten, in denen wir zuhause sind, mit sich fort. Aber nicht nur die Dinge, auch die Subjekte verzehren sich im »rasenden Bestellen des Bestandes« (Martin Heidegger). Und sogar das »Wir« erweist sich, wie der Philosoph Tristan Garcia bemerkt, als entgründet, wabert also letztlich nur noch als systemtechnisch zusammengehaltener Haufen blinder Begehrlichkeiten durch ein absolut nichtiges All.

Was soll, unter diesen Umständen, das mit dem »Wir müssen«-Apell beschworene Handeln bewirken? Die Suggestion, es drehe sich um die Rettung unseres Planeten, um die Bewahrung des ehrwürdigen Grundes, der uns von allem Anfang an trägt und nährt und begeistert, führt wohl in die Irre. Denn wer über den Dingen schwebt, interessiert sich nicht mehr wirklich für den Boden. Was sind schon noch „Brot und Wein“! Wem sagen die »sehnsüchtigen Bäche der Heimat« noch etwas! Wer will noch, im Blütenschimmer stehend, vom Himmel träumen! Allenfalls Licht, Luft und Wasser zählen vielleicht noch für eine Weile. Die Ressourcen eben, die nötig sind, um so lange weiterzumachen, bis die Maschinen übernehmen. 

Wer kann es vernünftigerweise wollen, sich in das »Wir« des Homo Deus und seine wahnwitzigen Machenschaften hineinziehen zu lassen?

Nun, uns wird womöglich nichts anderes übrig bleiben. Denn die Forderung »Wir müssen handeln« enthält auch eine scharfe Drohung an diejenigen, die sich dem dringend gebotenen Handeln verweigern wollen: Weil wir alle handeln müssen, dürfen wir Handlungsverweigerer unter uns nicht dulden. Unter keinen Umständen dürfen sie gehört und berücksichtigt werden. Man muss sie ächten, übergehen, notfalls unschädlich machen. Der implizite Aufruf zum Ausschluss von Zweiflern, Kritikern, Dissidenten und Freigeistern zeigt nun aber, wie es um das inklusiv gemeinte Menschheits-Wir in Wahrheit steht: Das Subjekt der Aussage »Wir müssen handeln« erweist sich als das exklusive Wir der Einsichtigen, das nicht nur mit einer Klasse von Uneinsichtigen rechnet, sondern auch gewillt ist, mit ihnen abzurechnen. Je nach Dringlichkeit der Lage kann das bedeuten: sublime Steuerung der Meinungsbildung (z. B. via Haltungsjournalismus, Faktencheck-Zensur, Cancel Culture, Political Correctness, negatives Framing), Einschränkung politischer Mitspracherechte (z.B. durch Netzwerkdurchsetzungsgesetze), umfassende Verhaltensregulierung (z. B. mittels eines Sozialkreditsystems wie in China) – bis hin zur totalen Modellierung des Lebens aufgrund datenbasierter Kalküle (was letztlich auch die planmäßige Liquidierung »absterbender Klassen« wie zu Zeiten des stalinistischen Terrors einschließen könnte).

Wir sehen uns im Exil.

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