Mit seinen Eichen, seinen Linden …

„Welcome to the German Century“ titelte unlängst das Magazin Newsweek. Sind die jetzt vollkommen übergeschnappt? Wissen die gar nichts von uns? Ein kurzer Beitrag über das Wesen, an dem die Welt auch im 21. Jahrhundert nicht genesen wird  Sollen sie Autos, Motorsägen und Druckmaschinen bauen, aber der Kult um das deutsche Maschinenbauertum ist mir peinlich. Das ist ein Aspekt von Deutschland, der mich krank macht. Wenn fortwährend gesagt wird: Wir sind die Autobauer, die Motorsägenbauer, die Druckmaschinenbauer der Welt und sonst nichts. Wenn selbst den Krankenschwestern aus Ghana, den griechischen Gastwirten und den ostwestfälischen Kunstmalern von früh bis… mehr

„Die beste Musik von Lady Gaga“

Maschinen bleiben doof. Wir selbst sind es, die ihnen die verständigen und einfühlsamen Antworten auf unsere drängendsten Fragen eingeben. Wir selbst sind es, die aus dem Apparat herausschauen, in dem wir eine neue Welt erblicken wollen. Das Dumme ist nur: Wir erkennen uns nicht mehr wieder  Wer sich in seinem Streben nach dem Guten weniger vom Gefühl als vom Mainstream leiten lassen möchte, findet auf Topten.com wertvolle Orientierungshilfen. Die Internetseite bietet Rankings für fast alles. Die „weltbesten Vereine“, die „coolsten Stürmertricks“, die „schlechtesten Fifa-Teams“, die „heißesten Spielerfrauen“: Allein der Fußballfan kann sich durch über… mehr

Gergievs Nase oder Die Freiheit der Andersdenkenden

Liberalität lässt sich nicht auf ein liberales Programm, Kunst nicht auf ihre politische Funktion reduzieren. Einige westliche Kritiker des russischen Dirigenten Valery Gergiev scheinen das anders zu sehen – und reden einem gnadenlosen Konformismus im Namen der Freiheit das Wort  Wenn das Machtspiel im Ernst beginnt, wenn also zwei Starke mit jeweils eigener Wahrheit und Weltsicht beschlossen haben, ihre Territorien neu abzustecken, dann geht dem Aufmarsch der Truppen in der Regel eine Mobilmachung der Öffentlichkeit voraus. Das Publikum des jeweiligen Lagers muss zu einer Gefolgschaft umgebildet, die schweigende, abwartende Mehrheit in eine Meute aktionsbereiter Ultras verwandelt werden. Die Fachleute,… mehr

Der Flow

Ich habe es mir in den Kopf gesetzt, den Flow zu erklären, weil ich denke: Wer den Flow nicht verstanden hat, weiß gar nichts, Jon Snow*. Da der Flow keine Idee, keine Sache und kein Stil ist, sondern ein Gefühl und ein Erlebnis, erkläre ich ihn am besten erst einmal am Beispiel und erzähle, wie ich letzten Donnerstag hinein gekommen bin … Ich war mit dem Fahrrad unterwegs zur Sixt-Station „München-Bhf. Laim-Hirschgarten“, wo der Mercedes-Transporter, den ich Tags zuvor per Online-Reservierung gebucht hatte, für mich bereit gestellt worden war, wie ich… mehr

Bruchstücke II

The watchman, he lay dreaming The damage had been done He dreamed the Titanic was sinking And he tried to tell someone (Bob Dylan, Tempest) Mit Recht wird die Dekonstruktion des Augenscheins durch Isaac Newton als wissenschaftliche Großtat angesehen. Sie als Ursünde des modernen Denkens zu betrachten, ist dagegen ein wenig aus der Mode gekommen. Das Bild des vom Prisma in Spektralfarben zerlegten Sonnenlichts fasziniert uns als Erkenntnissymbol, aber dass an der dadurch repräsentierten Erkenntnismethode etwas faul sein könnte, will niemand mehr wahr haben. Ohne Zweifel zählt Newtons Optik zu jenen Pioniertaten,… mehr

Der denaturierte Mensch und sein Herr

In dem nachstehenden Essay geht es um die Glaubenssätze, die unsere Kultur formen und zunehmend belasten. „Wir glauben an Freiheit durch Vorsprung und Vorsprung durch Technik“, heißt es im Text. Außerdem glauben wir natürlich an die unendliche Optimierbarkeit unserer Lebenswelt durch Wissenschaft und Design.Gegen diesen modernen Glauben muss ein Bekenntnis zur Natur des Menschen allein schon wegen der erdrückenden Dominanz konstruktivistischer Erkenntnistheorien hoffnungslos altbacken wirken. Dennoch habe ich versucht, die Natur als Vorbild und Maßstab glücklicher Humanität zu rehabilitieren. Das ist nicht ganz leicht. Und ich kann nicht behaupten, dass es mir gelungen wäre. Der Gedankengang bricht unvermittelt ab. Vieles ist nur… mehr

Vom Kinderkriegen

Reproduktionstechniken werden salonfähig. Wer es wagt, die „wissenschaftliche Bestimmung von Leben und Tod“ zu kritisieren wie Sibylle Lewitscharoff vor einigen Monaten, muss mit Kaltstellung rechnen. Mein Beitrag beleuchtet einen bislang kaum beachteten Aspekt der Debatte, nämlich den der Kommerzialisierung des Lebens. Nicht wegen der Künstlichkeit als solcher lehne ich die reproduktionstechnischen Verfahren ab, sondern weil alles Gemachte einen Markt macht … Bis vor wenigen Jahrzehnten wussten wir alles Notwendige übers Kinderkriegen. Dass ein Mann und eine Frau sich zusammentun müssen. Dass sie durch Zeugung, Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt zu Vater und Mutter werden.… mehr

Liebe Gemeinde

Ich hatte nicht gedacht, dass er noch existiert und erschrak deshalb fast, als ich ihn neulich zwischen alten Dokumenten fand: meinen offenen „Brief an die Freunde“ von 1979. Nach der Lektüre legte ich die vergilbten Schreibmaschinenseiten enttäuscht beiseite. Ich wollte etwas erklären damals, wollte meinen Freunden eine aus innerem Erleben gewonnene Erkenntnis plastisch vor Augen führen. Aber es misslang. Alles ist gut, solange ich die Liebe Gemeinde im Blick habe und einfühlsam beschreibe, der Rest ist Geschwurbel. Trotzdem habe ich mich entschlossen, den Brief noch einmal – wenn auch nur auszugsweise und mit neuen Erklärungsansätzen… mehr

„Fell in love years ago …“

Okay, es ist doch kein Buch geworden – aber ein langer Artikel: Hier kommt die Analyse des Beach-Boys-Klassikers Heroes and Villains. Der Text setzt keine großartigen musiktheoretischen Kenntnisse voraus, aber das Lied sollte man natürlich kennen. Deshalb hier ein paar Links. Zur Einstimmung empfehle ich die klanglich imposante Live-Aufnahme von Smile (London, Royal Festival Hall, 2004). Dem Song gehen hier der Choral „Our Prayer“, das kurze Intermezzo „Gee“ und das „Heroes and Villains“-Intro voraus. Diese einleitenden Stücke fehlen bei der Version von den Smile Sessions (1967/2011). Und für die Single von… mehr

Bruchstücke I

„Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden, viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung“, sagt der Romantiker Friedrich Schlegel. Wir produzieren Scherben, heißt das. Unsere Sachen sind von Anfang an kaputt. Es heißt aber auch: Unsere Sachen sind Bruchstücke vom Ganzen. Es liegt nicht in unserer Hand, aber es ist da: „Das Höchste ist das Verständlichste, das Nächste, das Unentbehrlichste“, sagt Novalis. * „Angeblich wächst die Sentimentalität im Alter, aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet.“ Wolfgang Herrndorf (1965–2013) * Es ist immer gut gewesen,… mehr