„Die beste Musik von Lady Gaga“

Maschinen bleiben doof. Wir selbst sind es, die ihnen die verständigen und einfühlsamen Antworten auf unsere drängendsten Fragen eingeben. Wir selbst sind es, die aus dem Apparat herausschauen, in dem wir eine neue Welt erblicken wollen. Das Dumme ist nur: Wir erkennen uns nicht mehr wieder 

Wer sich in seinem Streben nach dem Guten weniger vom Gefühl als vom Mainstream leiten lassen möchte, findet auf Topten.com wertvolle Orientierungshilfen. Die Internetseite bietet Rankings für fast alles. Die „weltbesten Vereine“, die „coolsten Stürmertricks“, die „schlechtesten Fifa-Teams“, die „heißesten Spielerfrauen“: Allein der Fußballfan kann sich durch über 400 Charts klicken. Wer sich für „People“ interessiert, bekommt natürlich die „sexiest Women“ und die „bösesten Menschen der Geschichte“ serviert, stößt aber auch auf Abseitiges wie die Galerie der „gefühlvollsten Prediger aller Zeiten“ oder das Who-is-Who der „berühmtesten Elternmörder“. In der Hitparade der „besten einschläfernden Musikgenres“ belegt erwartungsgemäß der Jazz den ersten Rang, Death Metal schafft es erstaunlicherweise nur auf Platz zehn. Die beste Musik von Lady Gaga? Bei Topten.com führt „Bad Romance“ die Rangliste an, es folgen „Poker Face“ auf Platz zwei und „Paparazzi“ auf Platz drei.

Irgendwelche Einwände? Repräsentiert das durch Hitlistenfan-Klicks generierte Ranking etwa nicht den Geschmack der Mehrheit? Würden Kritiker anders urteilen? Hätten Sie eine andere Wahl getroffen? Könnte es sein, dass dem Google-Mitgründer Eric Schmidt am Ende etwas Ähnliches wie das Topten.com-Verfahren vorschwebte, als er vor einiger Zeit prophezeite, die Google-Suchmaschine werde einmal in der Lage sein, die Suchanfrage „Die beste Musik von Lady Gaga“ sinnvoll zu beantworten?

Auf den ersten Blick scheint sich die Sache ohnehin längst erledigt zu haben. Programme wie die Spracherkennung von Google oder Siri von Apple gehorchen dem Nutzer aufs Wort. Doch die perfektionierte Übersetzung von gesprochenen Kommandos hatte Schmidt bei seiner Vision offenbar nicht im Sinn, eher schon die Themen, mit denen sich die Entwickler der semantisch orientierten Suchmaschine Wolfram Alpha beschäftigen. Dabei dreht es sich (neben einer Vielzahl von hochkomplizierten Detailfragen) um zwei unterschiedliche Problembereiche. Der erste hat mit der Eingabe, der zweite mit der Ausgabe von Informationen zu tun. Zum einen geht es um die alltagssprachliche Formulierung von Abfragen, die weniger auf das in einzelnen Begriffen Gesagte als auf das mit einem ganzen Satz Gemeinte abzielen. Zum anderen geht es um die Qualität der Antworten, die verlässlich und brauchbar, aber auch persönlich bereichernd und befriedigend sein sollen. Insgesamt stellt Schmidt die Konstruktion einer Internet-Schnittstelle in Aussicht, die nicht mehr bloß klar umrissene Befehle ausführt, sondern sozusagen mit Sinn und Verstand operiert. Gäbe es so etwas, wäre die Interaktion zwischen Mensch und Maschine, die – trotz Touchscreen, Siri etc. – immer noch insofern eine Kunst ist, als sie das Erlernen diverser Codes und Handhabungstechniken voraussetzt, so selbstverständlich wie die natürliche zwischenmenschliche Kommunikation. Bald wirst du mit deinem Rechner reden können wie mit einem Freund, scheint der Google-Manager sagen zu wollen. Mehr noch. Du wirst mit deinem Rechner besser reden können als mit deinem besten Freund, weil der Rechner (bzw. sein Gehirn, das Internet) im Unterschied zu deinem besten Freund immer die klügsten, nützlichsten und passendsten Antworten parat hat.

Naturgemäß vergisst Schmidt zu erwähnen, dass die Google-Suchmaschine bei allen sensorischen, analytischen und generativen Freundschaftsdiensten, die sie ihren Anwendern demnächst noch erweisen mag, nicht tatsächlich zu einem menschlichen Gegenüber mutieren oder reifen wird, sondern bleibt, was sie ist: ein ambivalantes Werkzeug, das kein Mensch nutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden.

Ein zweischneidiges Schwert ist gefährlich – aber nur in der Hand eines Kriegers. Für sich genommen ist es vollkommen bedeutungslos. Für sich selbst ist ein Werkzeug nicht einmal ein Werkzeug. So wie ein Auge ohne den Sehenden nicht einmal ein Auge und das Internet ohne die Nutzer, die es miteinander verknüpft, nicht einmal ein Netz ist. Das sollte man sich klarmachen, bevor man von „intelligenten“ Programmen, „klugen“ Computernetzwerken oder „verständnisvollen“ Suchmaschinen spricht: Lebendig ist der Geist der Maschine allein im Menschen. Jedes Bit Information im großen, weiten Internet stammt entweder direkt oder indirekt von Menschen. Algorithmen sind keine Überwesen, sondern Programme, die von Menschen entwickelt wurden. Sie helfen Aufgaben zu lösen, die sich Menschen gestellt haben. (Jaron Lanier: „Ohne Menschen sind Computer Raumwärmer, die Muster erzeugen.“) 

Insofern liegt jedem Algorithmus, egal ob er die Quadratwurzel aus 2 berechnet oder den rätselhaften Ausdruck „Die beste Musik von Lady Gaga“ zu entschlüsseln sucht, ein menschliches Anliegen, ein Wunsch, ein Machtkalkül, ein Interesse zugrunde. Ein überangepasster Fan möchte wissen, ob er „Bad Romance“ oder nicht vielleicht doch „Poker Face“ zu seinem Lieblingslied küren soll. Eric Schmidt möchte die marktbeherrschende Stellung des Unternehmens Google ausbauen. Ingenieure möchten basteln. Designer möchten gestalten. Bankangestellte möchten ein großes Auto oder ein kleines Flugzeug haben, um sich lebendig zu fühlen. Journalisten möchten, dass etwas geschieht. Jeder möchte etwas anderes, und insofern bleibt im digitalen Zeitalter alles beim Alten.

Doch die Tatsache, dass sich inzwischen nahezu alle Menschen desselben Mediums zur Verwirklichung ihrer Wünsche bedienen, schafft eine ganz neue Verbindung zwischen den Individuen. Und dieser neue Bund konstituiert eine neue Welt. Während die natürliche Wirklichkeit als das komplexe, wilde, gefährliche, in seiner Schönheit und Unberechenbarkeit irritierende Ganze in den Hintergrund tritt, erlangt der digitale Sektor immer mehr Bedeutung, bis er schließlich – zur Freude aller Ingenieure des Wissens und der Macht – ganz allgemein als neue Totalität angesehen wird. 

Die Religion, die diesem Weltgefühl entspricht, kennen wir schon. Gott ist in ihr nicht länger das himmlische Mysterium, dem man sich nur nähern kann, indem man sich ihm fragend überantwortet, sondern er sinkt einmal mehr herab zur landläufigen Intelligenz, als die er von den Banausen aller Zeiten angebetet wird. 

Aber wie gesagt: Algorithmen kochen auch nur mit Wasser.

Intuition, Verständnis, Geschmack, Empathie und dergleichen gibt es nicht in der Maschine. Sollte sie so etwas wie Gefühl zeigen, ist es ein mit Daten und Megadaten bezahlter Hurendienst. Sollte sie so etwas wie Sinn hervorbringen, ist es das Produkt unserer eigenen Taten und Leiden. Für die perfektionierte Google-Suchmaschine bedeutet das zunächst einmal nichts anderes, als dass sie tatsächlich bleibt, was sie ist. Auch im „intelligenten“ Modus wird sie im Prinzip mit der recht primitiven Topten.com-Methode arbeiten müssen, wenn sie zufriedenstellende Antworten auf die Anfrage „Die beste Musik von Lady Gaga“ generieren soll: Sie wird Klicks auswerten, die sich in irgendeiner Weise auf die Fragestellung beziehen.

In unserem speziellen Fall lägen die Daten gewissermaßen schon vor, gesammelt, geordnet, abrufbereit. Die Antwort „Bad Romance“ wäre schnell gefunden und kostete fast nichts. Sie würde die meisten Interessenten zufrieden stellen – allerdings nicht alle. Der Anspruch, nicht nur den durchschnittlichen Fan zu bedienen, sondern die Individualität jedes Fragestellers bei der Antwort zu berücksichtigen, verlangt mehr Aufwand bei der Suche. Ein persönlich befriedigendes Ergebnis kommt nur zustande, wenn auch persönliche Daten in die Auswertung mit einbezogen werden. Bevor also eine „intelligente“ Suchmaschine eine x-beliebige Frage beantworten kann, muss sie zurückfragen: Wer bist du? Natürlich erwartet sie keine Antwort aus dem Munde ihres menschlichen Gegenübers. Weil sie eine für das Auffinden von Daten im Internet programmierte Maschine ist, muss sie die Antwort in dem Millionenpuzzle bewusster Klicks und ungefragt abgezogener Megadaten suchen, das der Fragesteller im Internet verstreut hat. Zusammengesetzt ergibt sich ein Persönlichkeitsprofil, das womöglich die Generierung einer sinnvollen Antwort erlaubt. Sie könnte lauten: „Bad Romance“. Aber auch: „Es handelt sich um Kunst, mein Freund. Eine objektive Antwort auf deine Frage kann ich dir nicht geben.“ Oder: „Franzi findet ,Poker Face‘ am besten.“

Zugegeben, die Frage nach Lady Gagas bester Musik ist ziemlich bescheuert. Aber andere Fragen sind es nicht. Und intelligente Antworten, solche also, die über die sachliche Ebene hinaus auch persönliche Dinge wie das aktuelle Erkenntnisinteresse, das Alter oder den Bildungsstand des Fragenden berücksichtigen, sind immer gut. Die Entwicklung einer „intelligenten“ Suchmaschine erscheint also alles andere als absurd. Man kann sicher sein, dass zahllose Ingenieure bereits an ihrer Vervollkommnung arbeiten. Dass zahllose Bankangestellte ihre Markteinführung herbeisehnen. Dass zahllose Journalisten ihre Vorzüge preisen werden. Sie wird unabdingbar sein. Ein Segen für die Menschheit.

Aber noch einmal: „Intelligente“ Antworten liefert die Maschine nur um den Preis der vollständigen Offenlegung der Persönlichkeit des Fragenden. Die privaten Daten, die wir gegenwärtig noch mühsam vor dem unbeschränkten Zugriff durch Geheimdienste oder Internetkonzerne zu schützen versuchen, müssten wir bei jedem Kontakt freiwillig und in Gänze fortgeben. Der digitale Abdruck unserer Aktivitäten, dieser schon heute für alle interessierten Mächte sichtbare und nutzbare Schattenriss, würde Farbe annehmen, plastisch werden und schließlich aus dem Apparat herausschauen wie ein Gesicht aus dem Spiegel. Doch niemand sollte sich der Illusion hingeben, dieses fluide Datenkonglomerat würde sich jemals so brav verhalten wie ein Spiegelbild. Sein menschlicher Betrachter wäre nicht mehr der alleinige Herr, das Konterfei nicht mehr der ewige Knecht der Aktion. Denn das digitale Double ist weniger ein mimetisches Objekt als ein Objekt der freien Gestaltung. Und mitgestalten kann, wer die Macht dazu hat.  

Wenn ich zur Maschine sage: „Mir ist langweilig, was soll ich tun?“, lautet die Antwort: „Geh shoppen.“ Und es folgen Dutzende von Angeboten, die mich wirklich interessieren. „Ich habe Kopfschmerzen.“ Und es erscheinen Hinweise auf Schmerzmittel, die mir wirklich helfen. „Sag mir, wen ich wählen soll.“ Und die Maschine sagt es. „Sag mir, was mir gut tut“. Und die Maschine weiß es. „Sag mir, wer ich bin.“ Und die Maschine flüstert: „Du bist ein glücklicher Konsument.“

Steuerbar und ausrechenbar sind wir bereits heute. „Es ist inzwischen möglich, ganze Bevölkerungen mit Hilfe statistischer Kalkulationen zu beeinflussen und ihr Verhalten zu optimieren“, sagt Jaron Lanier. „Werbung ist keine Kommunikationsform mehr, sondern das bezahlte Mikromanagement der Optionen, die den Leuten angeboten werden.“ In der Ära der Maschine, die auf die Anfrage „Die beste Musik von Lady Gaga“ eine sinnvolle Antwort weiß, wird es keine Optionen mehr geben. Jede Regung wird auf einer Eingebung beruhen.