Vom Austernleben

Viel ist in diesen Tagen wieder vom hässlichen Deutschen die Rede, und wieder verstehen die Wohlgesinnten die Welt nicht mehr. Demütigung der Griechen? Spardiktat? Export-Übermacht? Hegemonie? Wir handeln doch vernünftig, heißt es. Und Vernunft ist doch etwas unbedingt Gutes. Und Innovation, Fortschritt, Wachstum, Tüchtigkeit, Rechtlichkeit und Rechtschaffenheit sind doch unbedingt vernünftig! Einmal mehr fühlt sich der brave Deutsche verkannt. Einmal mehr beschleicht ihn der Verdacht, die anderen setzten ihn nur deshalb herab, weil sie es ihm in fairem Wettbewerb nicht gleichtun können.

Ist es nicht so? So ist es doch. Sah doch bereits der große Thomas Mann so, als er sich vor hundert Jahren seine Gedanken im Kriege machte. Alle Welt schaue nur auf unsere „Mordwerkzeuge“, schrieb der Autor der Buddenbrocks damals, „als ob die Vorzüglichkeit von Deutschlands kriegstechnischem Gerät nicht einfach ein Merkmal unseres Niveaus überhaupt wäre“. Neben „unseren Kanonen und Torpedos“ müsse man auch „unsere Krankenhäuser, Volksschulen, wissenschaftlichen Institute und Eisenbahnen“ in den Blick nehmen. Alles zusammen sei Ausdruck einer kulturellen „Gesamthöhe“, von deren Spitzenmäßigkeit die „plutokratischen Bourgeois-Republiken“ des Westens nur träumen könnten. „Deutschland mit seiner jungen und starken Organisation, seiner Arbeiterversicherung, der Fortgeschrittenheit aller seiner sozialen Einrichtungen (ist) ja in Wahrheit ein viel modernerer Staat.“ Man ersetze „Arbeiterversicherung“ durch „Hartz-Gesetzgebung“ und „Mordwerkzeuge“ durch „Produktivität“ – schon ist das Selbstverständnis der jungen und starken, durch und durch vernünftigen Berliner Republik des Jahres 2015 treffend beschrieben.

Vom Scharfmacher zum Hellseher

Nun kreisten Thomas Manns Gedanken damals ja eher nicht um Vernunft und Vernünftgkeit. Die Leistungsfähigkeit Deutschlands auf den Feldern der praktischen Vernunft lobte er nur im Vorübergehen und weil es sich für eine kriegerische Propagandaschrift nun einmal gehört, alles Wirkliche zur Waffe umzuschmieden. Eisenbahn und Sozialversicherung waren aber bloß rhetorische Pfeile, schnell verschossen, schnell vergessen. Die Wunderwaffe des Pamphletisten war nicht technisch-praktischer, sondern wunderlicher Natur: Thomas Mann brachte das, was er als Quintessenz der deutschen Geistesgeschichte ansah und liebte, nämlich Innerlichkeit, Tiefe, Mystik und Musikalität, gegen die auf Menschenrechten und Demokratie fußenden Werte des Westens in Stellung, kurz: er führte die deutsche „Kultur“ gegen die westliche „Zivilisation“ ins Feld. Und weil er eben ein sprachmächtiger Zauberer war, verstand er es ausgezeichnet, seine Wunderwaffe rhetorisch so scharf zu machen, dass die zeitgenössische Leserschaft sich von ihr getroffen (bzw. beschützt) fühlen musste.

Zum sprachlichen Scharfmachen gehört bekanntlich die Auslassung dessen, was die Aussage schwächen und das Bild verunklaren würde. Thomas Mann hat in seinem Porträt des Deutschtums vieles und viele ausgelassen. So führte er zwar etliche Geistesgrößen von Luther über Goethe und Schiller bis Nietzsche als seine Kronzeugen an, andere, nicht minder wichtige Zeugen, ließ er jedoch geflissentlich links liegen. Heine zum Beispiel. Oder Friedrich Hölderlin. Letzterer hat, was die Charakterisierung deutscher Wesensart anbelangt, bekanntlich ebenfalls einen bedeutenden Beitrag geleistet. „Es ist auf Erden alles unvollkommen, ist das alte Lied der Deutschen“, lässt er seinen Hyperion klagen. „Wenn doch einmal diesen Gottverlassnen einer sagte, dass bei ihnen nur so unvollkommen alles ist, weil sie nichts Reines unverdorben, nichts Heiliges unbetastet lassen mit den plumpen Händen, dass bei ihnen nichts gedeiht, weil sie die Wurzel des Gedeihns, die göttliche Natur, nicht achten. (…) Und darum fürchten sie auch den Tod so sehr, und leiden, um des Austernlebens willen, alle Schmach, weil Höhers sie nicht kennen, als ihr Machwerk, das sie sich zusammengestoppelt.“ Selbst den vermeintlich guten Seiten der Deutschen, ihrer Pünktlichkeit und Gründlichkeit, kann Hyperion nichts abgewinnen: „Die Tugenden der Deutschen aber sind ein glänzend Übel und nichts weiter; denn Notwerk sind sie nur, aus feiger Angst, mit Sklavenmühe, dem wüsten Herzen abgerungen, und lassen trostlos jede reine Seele.“ Und weiter: „Wenn sie nur bescheiden wären, diese Menschen, zum Gesetze sich nicht machten für die Bessern unter ihnen! Wenn sie nur nicht lästerten, was sie nicht sind, und möchten sie doch lästern, wenn sie nur das Göttliche nicht höhnten! – Oder ist nicht göttlich, was ihr höhnt und seellos nennt? Ist nicht besser, denn euer Geschwätz, die Luft nicht, die ihr trinkt?“

Kotzbrocken und Kirchenfürsten

Viel ist geschehen seit Hyperions Schelte der Deutschen, doch immer noch stimmt jedes Wort. Heute kommt diesen Worten sogar ein ungleich größeres Gewicht zu, denn anders als zur Entstehungszeit des „Hyperion“ im ausgehenden 18. Jahrhundert, als die Deutschen ihren heimlichen Herrschaftsanspruch allenfalls „im Luftreich des Traums“ (Heine) behaupten konnten, haben sie die später erschuftete und in zwei Weltkriegen verspielte irdische Machtstellung längst wieder zurückerobert. Die Nation der Ingenieure und Exporteure ist eine internationale Größe, und ihre politischen Repräsentanten blähen darob schon wieder stolz die Backen. Deutsche Hybris macht sich nicht nur im Umgang mit den Griechen übel bemerkbar. Sie zeigt sich im dubiosen Geschäftsgebaren der Deutschen Bank ebenso wie in der angeberischen Märchenfassade des Berliner Kanzleramtes, im traditionstrunkenen Ökonomismus der Sozialdemokratie ebenso wie in der übermenschlichen Sachlichkeit der Kanzlerin und ihres Finanzministers. Die Erhebung der technizistischen Weltsicht zur Weltreligion und die damit einhergehende Vergötterung wirtschaftlichen Erfolgs sind zwar nicht das alleinige Werk von Deutschen, aber ihre Beiträge zu diesen katastrophalen Fehlentwicklungen sind wesentlich.

Immer noch und in der gleichen Weise wie zu Hölderlins Zeiten ist es ihnen um das zu tun, was sie Weltverbesserung nennen. Alles ist unvollkommen, nichts ist gut in ihren Augen. Nie ist es einfach schön draußen, sondern immer zu kalt oder zu heiß, zu trocken oder zu nass, zu still oder zu laut. Der Frühling kommt immer zu spät, der Winter immer zu früh. Der Tag ist zu dunkel, die Nacht zu hell. Nirgends in der Natur ist es auszuhalten, außer in der Arbeit am eigenen Leben und an der Welt der anderen. In der Tat sind sie irrsinnig genug, um eine Welt ohne Krankheit, Alter und Tod schaffen zu wollen. Weil in ihrem fool’s paradise niemand mehr leiden soll, dürfen die Frauen keine Kinder mehr gebären und die Kinder keine Dummheiten mehr machen. Es gibt dort also weder Frauen noch Kinder. Und weil Männer ohne Frauen und Kinder nicht existieren können, verschwinden auch sie von der Erde. Geforscht, gestritten und geackert wird für ein geschlechtsbefreites Menschenwesen, das man sich als einen zahmen Weisen vorstellt, der von einem epikuräischen Fest zum nächsten wandelt. In Wirklichkeit werden wir es wohl eher mit Intelligenz-Bestien zu tun bekommen, mit transhumanen Monstern, die beides in sich vereinigen: Geist in höchster Potenz und Gier in beispiellosem Ausmaß.

Wer die Zukunft des Homo Sapiens schon heute besichtigen will, schaue sich die erfolgreichen Kotzbrocken des Silicon Valley an. Anschauungsmaterial liefert aber auch die Vergangenheit. So wie ein Kirchenfürst der frühen Neuzeit wird der kommende Mensch sein: ein hoch kultiviertes, teuflisch intelligentes, machtgeiles Produkt eines schizophrenen Apparats.

Das Austernleben

Hölderlin hat diesen Apparat nicht beschrieben, aber er hat dessen Eigenart in all seiner glanzvollen Tragik mit einer einzigen schönen Metapher beschworen. Ich meine das Bild der Auster. Wir führten ein Austernleben, sagt der Dichter, und er hat recht. Denn zwar leben wir als Kinder natürlich noch in der weiten, hellen Welt, die draußen vor unseren Türen sich unendlich ausbreitet, doch mit der Zeit schließen wir uns eben mehr und mehr in jenes enge, finstere Gehäuse ein, das bei den Erwachsenen unter verschiedensten Namen bekannt ist: Gesetz, Norm, Bewusstsein, System, Vernunft, Rationalität, Wissenschaft, Technologie, Struktur oder einfach – Sprache. Das Leben im Gehäuse hat seine Vorzüge. Es ist bequem und sicher. Was irritiert, wird eingekapselt und – manchmal – zur Perle sublimiert. Aber richtig freuen können sich an diesen Kunstgewächsen auch nur die Jungen. Denn das Augenlicht erlischt in der Austernschale. Der Logos ist blind.

Natürlich wachsen nicht nur Individuen, sondern auch Gruppen und ganze Gesellschaften in logische Kapseln hinein. Die römisch-katholische Kirche zum Beispiel: Ist sie nicht so etwas wie ein zarter, weicher Organismus, der eine harte dogmatische Schale um sich ausbilden musste, damit er in ihrem Schutz wachsen und gedeihen konnte? Seit zweitausend Jahren stoßen sich fromme Kirchenkritiker an dieser Schale. Das Dogma verfälsche die Religion, sagen sie – woraufhin die Kleriker mit einigem Recht entgegnen, dass die Religion des Dogmas bedürfe, um in der Zeit zu bestehen. Tatsächlich zeigt ja auch die Geschichte der protestantischen Kirchen, dass Kritiker, wenn sie denn mal den Hammer zur Hand nehmen und den Heiligen Panzer zertrümmern, alsbald selbst Kalk ansetzen und in eigene Kapseln sich verkriechen. Gibt es nur verhärtete, also falsche Religion? Gibt es nur verkrochenes, also falsches Leben?

Religion der Anschauung

Friedrich Schleiermacher, der seine Reden „Über die Religion“ etwa zur gleichen Zeit verfasste wie Hölderlin den „Hyperion“, schrieb zu der Austernproblematik: „Wer nur systematisch denken und nach Grundsatz und Absicht handeln (…) will in der Welt, der umgrenzt unvermeidlich sich selbst und setzt immerfort dasjenige sich entgegen zum Gegenstande des Widerwillens, was sein Tun und Treiben nicht fördert. Nur der Trieb anzuschauen, wenn er aufs Unendliche gerichtet ist, setzt das Gemüt in unbeschränkte Freiheit, nur die Religion rettet es von den schimpflichsten Fesseln der Meinung und der Begierde.“ Man muss dazu sagen, dass Schleiermacher in den Reden eine ganz eigene, zugleich archaische und sehr moderne Auffassung von Religion vertritt. Für ihn hat sie weder mit metaphysischer Erklärung des Universums noch mit moralischer Optimierung des Lebens etwas zu schaffen. „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl“, sagt er. Und mit Anschauung ist eher ein passives Betrachten als ein aktives Erkennen gemeint. „Was ihr anschaut und wahrnehmt, ist nicht die Natur der Dinge, sondern ihr Handeln auf euch.“ Das ununterbrochen tätige Universum offenbart sich uns in jedem Augenblick. „Jede Form, die es hervorbringt, jedes Wesen, dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein gibt, jede Begebenheit, die es aus seinem reichen, immer fruchtbaren Schoße herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf uns; und so alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen – das ist Religion. Was aber darüber hinaus will, und tiefer hineindringen in die Natur und Substanz des Ganzen, ist nicht mehr Religion, und wird, wenn es doch noch dafür angesehen sein will, unvermeidlich zurücksinken in leere Mythologie.“ Die Religion der Anschauung ist nicht rituell gebunden, sondern frei und individuell, deshalb erkennt sie die religiösen Äußerungen und Zeugnisse jedes anderen an. „Jeder muss sich bewusst sein, das seine Religion nur ein Teil des Ganzen ist, dass es über dieselben Gegenstände, die ihn religiös affizieren, Ansichten gibt, die ebenso fromm sind und doch von den seinigen gänzlich verschieden.“

Man hat aus Schleiermachers Religion der Anschauung zuerst einen Skandal und dann eine Perle gemacht. Man hat sie dem Wunderlichen zugeschlagen, der „Kultur“ der deutschen Innerlichkeit. Dabei ist ihre Lehre so klar wie das Licht in Griechenland. Wir müssten uns ihr öffnen, wäre uns am Offenen gelegen.  Wie lautete noch Hölderlins Frage? „Ist nicht besser, denn euer Geschwätz, die Luft nicht, die ihr trinkt?“ Lassen wir es gut sein.