Update

Manchmal wünsche ich mir eine Textchefin, einen kritischen Kollegen, einen Chefredakteur. Jemanden, der mich darauf hinweist, dass eine Formulierung zu abgedreht, eine Passage entbehrlich, ein Beitrag noch nicht rund ist. Aber solch eine Person gibt es nun mal nicht in diesem Laden. Ich publiziere, was ich will und wann es mir passt. So kommt es, dass ich gewisse Ungereimtheiten oft erst nach der Veröffentlichung bemerke – und manche Artikel noch im Nachhinein redigiere. An „Das Herz der Freiheit“ habe ich bis gestern gearbeitet. Viel Spaß mit dem letzten Update.

Das Herz der Freiheit

Ich will begreifen, was mir zu schaffen macht, will es so genau wie möglich darstellen, aber wahrscheinlich werde ich es wieder mal nicht richtig zu fassen kriegen, weshalb auch dieser Versuch auf eine bloße Umschreibung des Gemeinten hinauslaufen wird. Was ich aber meine, ist zunächst einmal nicht viel mehr als das ungute Gefühl, das mich seit einigen Jahren bedrückt: dass ich in etwas hineingerate oder hineingezogen werde, das ich als menschliches Individuum nicht wollen kann. Es geht dabei nicht um persönliche Befürchtungen im Hinblick aufs Älterwerden oder Sterben. Auch nicht… mehr

Drei Improvisationen über Rassismus

Ich war immer gegen Rassismus – und bin es selbstverständlich noch heute. Für meine Einstellung gibt es neben allgemein moralischen auch zwei biografische Gründe. Zum einen ist es die Abscheu vor dem mörderischen Rassismus der Nationalsozialisten, in dessen System meine Eltern und Großeltern als Zeitgenossen zwangsläufig verstrickt waren (wobei sie sich glücklicherweise keines Verbrechens schuldig gemacht haben). Hinzu kommt meine Liebe zur Schwarzen Musik und ihren Helden von Lady Day bis Charles Mingus und von Nina Simone bis Bob Marley (»Until the philosophy wich holds one race superior/ and another… mehr

Lesetipps

Wer zum ersten Mal hier vorbeischaut, mag sich fragen: Womit einsteigen? Ich würde zu „Einspruch!“ (1 und 2) raten – oder zu „Das erste Gebot der Vernunft„. In diesen Artikeln geht es um aktuelle politische Fragen: die Debatte um die Meinungsfreiheit und das Problem der akut bedrohten Subjektivität. Zwar behandeln auch die beiden jüngsten Essays brennende Fragen der Gegenwart (Funktionalismus und Freiheit, Natur und Mythos), aber sie sind vielleicht etwas theorielastig – und ganz schön lang.

Im Gestell

Der Physiker und Philosoph Ernst Mach (1838–1916), ein überaus netter, humorvoller, der Sozialdemokratie nahestehender Mann, war ein Empirist reinsten Wassers. Auf die Frage nach der Existenz von Atomen pflegte er zu antworten: »Haben Sie welche gesehen?« Heute vor allem wegen der nach ihm benannten Mach-Zahl bekannt, inspirierte der skeptische Österreicher das Denken so unterschiedlicher Intellektueller wie Albert Einstein, Wladimir Iljitsch Lenin, B.F. Skinner, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Robert Musil. Einstein sagte einmal: »Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Mach auf die Relativitätstheorie gekommen wäre, wenn in der Zeit, als… mehr

Die Sonne scheint über der Geschichte*

Es gibt die Natur, die mich mit ihren kühlen Gründen und »sehnsüchtigen Bächen« beeindruckt, und es gibt die Natur in meiner Rede. Der letzteren ist nicht immer zu trauen. Denn was soll das eigentlich heißen: natürlich? Kein Wort geht einem leichter über die Lippen, keines ist schwerer zu fassen, eben weil es bezeichnet, was sich von selbst versteht. Manchmal verwenden wir es tatsächlich in diesem Sinne. Wer etwa die Frage »Kommst du heute Abend?« nicht einfach mit »Ja« beantwortet, sondern völlig ironiefrei »Natürlich« sagt, verweist sozusagen auf die Evidenz kosmischer… mehr

Einspruch! (2)

Ist die Meinungsfreiheit hierzulande bedroht? Unter der entwaffnenden Überschrift »Meine Meinung!« hat sich auch Johannes Schneider kürzlich zu dieser Frage geäußert. Sei ganz entspannt, sagt der ZEIT Online-Redakteur gleich im Beitragstitel. Ich schreibe weder im Namen eines Wahrheitsministeriums noch einer Glaubenskongregation, sondern habe mir bloß ein paar Gedanken gemacht, die ich hier völlig ungezwungen zur Debatte stelle. »Meine Meinung« eben. Und zwar mit Ausrufezeichen! Als Wink mit dem Zaunpfahl gewissermaßen – für die ganz Blöden, die es einfach nicht kapieren wollen, dass die Meinungsfreiheit hierzulande naturgemäß kein bisschen bedroht ist!… mehr

Einspruch! (1)

»Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an. Ich will mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben.« Zum Glück hielt sich Hannah Arendt nicht allzu lange an ihren Vorsatz. Im Jahre 1933 aber, als die angehende Philosophin Deutschland verließ, war es ihr bitter ernst damit, und noch in dem berühmten Fernsehinterview, das der Journalist Günter Gaus 1964 mit ihr führte, bekundet sie ihre tiefe Skepsis gegenüber bestimmten Intellektuellen – jenen nämlich, die dem Wirklichen auch dann noch Vernunft zuschreiben, wenn es keine freie menschliche Regung mehr zulässt. Nicht… mehr

Auf verlorenem Grund

Polarisierung ist normal. Wo zwei zusammenkommen, setzen sie sich auch auseinander. Kein Problem, solange sie an einem Tisch sitzen. Was aber, wenn das Mobiliar zerschlagen, das Tafelsilber verkauft, das Haus verwüstet und die Landschaft verschandelt ist! Was, wenn sie dahin sind: die unstrittigen Gegebenheiten, die geschichtlich verbürgten Tatsachen, die niemals hinterfragten Naturschönheiten! Es fehlt dann der verbindliche Rahmen, in dem selbst unmögliche Figurenkonstellationen ein Bild ergaben. Wo es keine gemeinsamen Grundanschauungen und geteilten Grunderfahrungen mehr gibt, zerfällt auch die komplexe Einheit polar aufeinander bezogener Positionen. Die Spannung reißt ab. Koexistenz… mehr

Die technokratische Versuchung

Eine epidemiologische Expertise ist nicht vonnöten, um festzustellen, dass es sich bei »Corona« auch um eine mentale Pandemie handelt. Das Virus SARS-CoV-2 mag als Krankheitserreger in die Welt gekommen sein, aber seit seiner Entdeckung ist es auch ein Bedeutungsträger. Es mag sich in menschlichen Organismen verbreiten, aber in Kommunikationskanälen geht es ebenfalls viral. Im Gewand immer neuer Berichte, Theorien, Narrative, Gesetze und Verordnungen hält es uns seit über einem Jahr in Atem. Um nicht unter der semantischen Viruslast zusammenzubrechen, haben die meisten von uns sehr frühzeitig eigene Standpunkte eingenommen, bieten… mehr