Les Jeux Sont Fait

Wenn wir die Globalisierung als ein Spiel ansehen, in dem es Gewinner und Verlierer gibt, ist das zunächst einmal nicht böse, sondern sachlich gemeint. Wir stellen ganz einfach fest, dass beispielsweise nicht alle Erdenbewohner gleichermaßen von der Entgrenzung der Finanzmärkte profitieren oder nicht alle Völker den gleichen Nutzen aus der Liberalisierung des Welthandels ziehen. Manche player ergreifen ihre Chance, andere verpassen sie; einige kommen zu Wohlstand, andere geraten in Armut. Genau diesem Umstand tragen wir Rechnung, wenn wir die einen als »Gewinner« und die anderen als »Verlierer« bezeichnen. Der Gegensatz drückt nur aus, was sich im Sachverhalt zeigt.

Zuschreibung versus Beschreibung

Allerdings sind binäre Zuschreibungen mit Vorsicht zu genießen, weil sie das reale Geschehen zwischen zwei Polen auf ein logisches Verhältnis zwischen zwei Extremen reduzieren. Zuschreibungen erzeugen Identität und unterschlagen das Nicht-Identische; sie präsentieren Resultate und ignorieren das Spiel.

Wer dem Spiel gerecht werden will, kann sich in seiner Bewertung nicht allein auf die Ergebnisse stützen. Erforderlich ist eine Begutachtung des Spielverlaufs, eine Gesamtschau, die ihren Ausdruck in einer mehr oder weniger differenzierten Darstellung der Begegnung finden wird. Im Rahmen solch einer Darstellung sind die Zuschreibungen »Gewinner« und »Verlierer« dann nicht viel mehr als Aufhänger für das Bild, das man sich vom Geschehen gemacht hat und gegebenenfalls vermitteln möchte. Egal ob solch ein Gesamtbild eher impressionistisch oder eher sachlich getönt ist: Als Ganzes bietet es stets einen weiten Spielraum für Auslegungen, Richtigstellungen, Präzisionen und Spekulationen. Auch Hoffnungen und Befürchtungen können sich an derartige Darstellungen knüpfen. Sofern sie nämlich nicht nur Tatsachen berücksichtigen, sondern etwa auch verschleierte Absichten, verpasste Chancen und verborgene Schwächen ans Licht bringen, fördern sie die Erkenntnis, dass in Wirklichkeit ohnehin nichts endgültig entschieden ist. Die Dinge bleiben im Fluss. Im Strom der Ereignisse können Gewinner untergehen und Verlierer aufsteigen, beim nächsten Treffen können Favoriten straucheln und Außenseiter vorpreschen, im Verlauf der Geschichte können Machthaber den Kopf verlieren und Ohnmächtige zu sich kommen, kurz: Zuschreibungen können bekräftigt, aber auch zurückgenommen werden. 

Wenn wir mit Zuschreibungen operieren, sollten wir sie nicht als Brandzeichen verwenden, die Akteure auf ewig abstempeln, sondern als semantische Elementarteilchen, die nur im Zusammenhang provisorischer Wirklichkeitsbeschreibungen Bedeutung erlangen. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass begriffliche Gegensätze wie »Gewinner« und »Verlierer« nur die abstrakten Pole weiter Sinnfelder markieren, die es uns ermöglichen, Gegenstände darzustellen und um sie zu ringen.

Binäres Denken

Böse wird es erst, wenn Beobachter keinen Sinn mehr in Gegenständen sehen, besser gesagt: wenn sie in ihnen nichts anderes mehr erkennen wollen als Projektionen, deren einzige Funktion es ist, bestehende Welt- und Selbstbilder wieder und wieder und wieder zu bestätigen. In dieser Welt des »rasenden Stillstands« (Paul Virilio) kommt es nicht mehr auf ergebnisoffene Spiele, sondern nur noch auf eingespielte Ergebnisse an. Im Fokus steht dann nicht mehr das Feldgeschehen, sondern nur noch die Anzeigentafel, nicht mehr die geschichtliche Wirklichkeit, sondern nur noch die mythische Wahrheit, nicht mehr der empirische Charakter, sondern nur noch die fiktive Identität. Denn die Dinge werden nicht mehr in einem polaren Sinnfeld verortet, sondern mit einem seiner Extremwerte identifiziert. Mit anderen Worten: Das polare Denken in Feldern radikalisiert sich zum binären Denken in Gegensätzen, zwischen denen nichts mehr vermittelt

Im binären Denken gibt es kein Zwielicht, keine Schattierungen, keine Ambivalenzen, keine wohltemperierte Stimmung, kein Mehr-oder Weniger und kein Sowohl-als-Auch. Unterscheiden heißt nicht mehr Begutachten, Vergleichen, Abwägen und Beurteilen, sondern nur noch: Entscheiden. Zur Wahl stehen jeweils genau zwei Begrifflichkeiten, die einander entgegengesetzt sind wie die 1 und die 0 im binären Zahlensystem. In dem durch die Binäropposition definierten Bit klafft ein vollkommen leerer Abgrund. Das ehedem durch Sinnfelder repräsentierte reale Kontinuum, in dem alles mit allem verbunden war, ist verschwunden. Was von der Welt bleibt, ist der harte, unvermittelte, rein logische Gegensatz. Was vom Subjekt bleibt, ist das Verlangen nach totaler Identifikation mit einem und nur einem der beiden Extremwerte. Entweder 1 oder 0, entweder wahr oder falsch, entweder gut oder böse, entweder sein oder nicht sein: Die Entscheidung für das Eine schließt das Andere aus und macht das Dritte unmöglich. Bedingte, vorläufige Erkenntnis erstarrt zur unbedingten, zeitlosen Wahrheit.

Was tun mit Nullen?

Wer sich also der Denkungsart des binären Entscheidungs- und Identifikationszwangs unterwirft, dem präsentieren sich die Gewinner der Globalisierung nicht mehr als Nutznießer vorübergehender historischer Gelegenheiten, sondern als die finalen Sieger der Geschichte. Die Verlierer erscheinen nicht mehr als zeitweilig ins Hintertreffen geratene Mitspieler, sondern als ein für allemal abgeschlagene Nullen. Diesen endgültig »Abgehängten« gesteht man vielleicht noch irrationale Ängste zu, aber keine vernünftigen Argumente mehr. Sie haben noch eine Stimme, aber nichts mehr zu melden. Man redet über sie, aber nicht mit ihnen. Man kümmert sich womöglich um sie, aber möchte nichts mit ihnen zu tun haben.  Selbstverständlich ist man ein Freund und Fürsprecher der Aufklärung, gibt sich liberal und tolerant, demokratisch und pluralistisch, man schätzt und pflegt den »herrschaftsfreien Diskurs« – aber nur unter sich, unter Gewinnern. 

Unter Gewinnern mag dann auch die Frage aufkommen, wie lange unbelehrbare Anhänger von Verlierermodellen (zu denen neben der »Familie« und der »Nation« ja längst auch das gute alte »Individuum« zählt) überhaupt noch tragbar sind. Wenn die Leute einfach nicht vernünftig werden wollen: Was tun? 

Binäre Denker kennen naturgemäß kein Pardon. Ihr Dogma besteht aus drei Sätzen. Erstens: Unser Modell ist vernünftig. Zweitens: Seine totale Verwirklichung ist notwendig. Drittens: Darum darf es keine Verlierer mehr auf Erden geben. Was also tun? Man wird sie wie weiland unter Stalin zur »absterbenden Klasse« erklären und entsprechend mit ihnen verfahren. Man wird sie markieren, isolieren und – eliminieren. 

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