Über die Armut

Ich habe nichts gegen Reiche, solange sie nicht die Herrschaft übernehmen. Ich habe nichts gegen den Markt, solange er nicht über meine Wünsche gebietet. Ich habe nichts gegen Technik, solange sie mich nicht knechtet. Ich habe nichts gegen Genuss, solange er mir nicht den Verstand raubt. Ich habe nichts gegen den Verstand, solange er sich nicht gegen mich wendet. Aber das tut er. Er rät zur Kapitulation und verspricht im Gegenzug ungeahnte Sinnenfreuden, große Bequemlichkeit, maximale Zerstreuung und ja, auch Reichtum. Aber ich will nicht reich sein. Ich sehne mich nach Armut.

Über allen Engeln

Wenn es nur ums Geld ginge. Aber es geht auch um Wissen, Technik, Politik, Kunst, Lebensform und Lebensgefühl. In unserer Welt ist alles auf Überbietung hin angelegt, Optimierbarkeit ist der Wert aller Werte. Daher starren eben nicht nur die fiesen Geldmacher, sondern auch die feinsinnigen und gutwilligen Geister unentwegt auf Kurvenverläufe. Was jedoch in der Aufklärung mit dem Glauben an die Perfektibilität des Menschen begann und sich bei Nietzsche zur Prophetie des Übermenschen steigerte, wird heute lediglich als kybernetische Herausforderung angesehen, bei der es darum geht, Prozesse möglichst effizient zu gestalten. Dass der Mensch in der Rechnung eigentlich gar nicht mehr vorkommt, zeigt schon der Begriff, der das Denken der Zeit beherrscht: Optimierung ist jene Art von Verbesserung, die um das Gute sich nicht schert. Was man der Moderne als Verdienst anrechnen muss, die Verbesserung der Lebensumstände, war von Anfang an durch eine Umwertung des Humanen erkauft und läuft auf seine totale Entwertung hinaus. Gesundheit ist kein Gut mehr, sondern das Label noch nicht entdeckter Krankheiten. Wahrheit ist Verhandlungssache. Menschenrecht ist Legitimierung aller „notwendigen“ Verbrechen gegen die Natur. Weltfrieden ist der Palastfrieden derer, die vom weltweiten Krieg gegen die Hütten profitieren. Schönheit ist Süßstoff, Vernunft ist Romantik, Glück ist Elend, Natur ist Kitsch. Angesichts dieser euphemistisch „Wertewandel“ genannten Entkernung alles Wertvollen ist der unbehauste Zeitgenosse gehalten, sich als stolzer Nomade zu stilisieren, der beim Anblick einstürzender Neubauten befreit aufatmet; mir begegnet er jedoch überall als heimatloser Herumtreiber, der verzweifelt Ausschau nach Asyl hält. Doch wo unterkommen? Führen Heilswege nach Haus, schafft der Umsturz Raum für eine Bleibe? Wohl nicht. Revolution, Reform und Religion, wie wir sie zu denken gewohnt sind, helfen nur dem Fortschritt auf die Sprünge, weil sie seiner Überbietungslogik gehorchen.

Wer den Sinn der Armut erfassen will, wird sich irgendwann an den allerersten Satz der Bergpredigt erinnern. „Selig sind die Armen am Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.“ Wer sich diesen sperrigen Satz verständlich machen will, wird irgendwann auf Meister Eckhart stoßen, der „wahre Armut“ als Abkehr nicht nur vom Habenwollen, sondern auch vom Wissenwollen begriff. Arm ist dem Mystiker zufolge derjenige, der nichts hat, nichts weiß und nichts will. Wenn man sich das Selbst eines Menschen als Gefäß denkt, so wird der wahrhaft Arme dieses Gefäß nicht bloß leeren. Es wird es entfernen, damit an seiner Stelle sein kann, was ist. Der Lohn der Armut ist das Himmelreich, aufgefasst jedoch nicht als Ziel, das einem stets nur vorgehalten wird, sondern als Sein, dem man sich anvertraut hat. Befreit von den Halbheiten des Wissens und der Mühsal des Wollens, befreit auch von den Zumutungen des Glaubens, befreit sogar von der Sorge um sich, „empfange ich einen Ruck, der mich über alle Engel bringt. Da empfange ich so großen Reichtum, dass mir Gott nicht genug sein kann in seinen geschaffenen Werken; denn ich empfange in diesem Durchbruch, dass Gott und ich Eins sind.“

Nun wissen wir aus der Geschichte und aus Erfahrung, dass solche Predigten mit Vorsicht zu genießen sind. Armut kann hergestellt werden. Selbst „wahre Armut“ ist vor industriellem Zugriff nicht gefeit. Die transhumanistischen Technokraten des Silicon Valley jedenfalls arbeiten längst daran, den mystischen Quellcode jedweder Religion zu knacken, um aus dem Himmelreich des im Sein versunkenen Meisters ein Massenprodukt zu machen. Wie himmlisch leicht ist das Leben nicht schon heute für denjenigen, der es größtenteils seinen Geräten anvertraut! In naher Zukunft wird das Gerätevertrauen der Massen vermutlich so vollkommen sein, dass sie ihr gesamtes Wissen, Wollen und (Gut-)Haben mit Freuden für die Wonnen des künstlichen Seins hingeben. Man wird sich „über allen Engeln“ wähnen – freilich nur bis zum Weckruf, der zum Kauf der nächsten session mahnt. Wir werden bedenkenlos zugreifen, nicht einmal mehr ahnend, dass die wahre Armut das Gegenteil der großen Dummheit ist, die wir im Begriff sind zu begehen.

Platons Sonne

„Geist“ ist ein gewichtiges Wort. Es trägt schwer an der Jahrtausende alten Denktradition, derzufolge der Begriff höher zu bewerten sei als der Eindruck. Diese Wertschätzung kommt nicht von ungefähr. Zwar fassen wohl auch Tiere einander ähnliche Dinge in irgendeiner Weise zu Klassen zusammen, aber nur der Mensch vermag solche Klassen zu benennen. Vermutlich war der Name von Anfang an sowohl Zeichen als auch Begriffssymbol. Er diente dazu, bestimmte Dinge aufzurufen, aber er diente auch dazu, Klassen von unsagbarer Mächtigkeit anzurufen. „Esche“ konnte einen Laub tragenden Baum bezeichnen, aber auch den alles tragenden Weltenbaum. „Herr“ konnte den gegenwärtigen Anführer der Sippe meinen, aber auch den allgegenwärtigen Herrscher der Welt. „Feind“ konnte vor dem Angreifer warnen, der von da oder dort anrückt, aber auch vor dem Widersacher, der überall lauert. Das praktische Wissen über Angreifer und Anführer verschafft der Gruppe entscheidende Vorteile im Überlebenskampf. Das theoretische Wissen um Weltherrscher und Widersacher aber ist naturgemäß ein ziemlich schwer zu durchschauendes Gespinst aus Gewissheiten, Erfahrungsschätzen, Überlieferungen, Behauptungen, Gerüchten, Irrtümern und Lügen, das nicht zuletzt dem nützt, der es glaubhaft zu inszenieren weiß.

Tamtam gehört dazu. Doch der Aufstieg der „Geistlichkeit“ beruht nicht allein auf der Macht der Trommeln, er beruht auch auf der Magie des Wissens. Die Anrufung des allgegenwärtigen Ganzen rief ein Echo im Hörer hervor, der sich darum nicht mehr von allem abgeteilt, sondern im Ganzen aufgehoben wusste. Der Begriffszauber wirkte und war somit wahr. Wirksamkeit und Wahrheit fielen im theoretischen Denken zusammen, bis ein paar helle griechische Köpfe vor zweitausendfünfhundert Jahren die reine Wissenschaft erfanden.

Männer wie Heraklit oder Parmenides waren nicht auf Resonanz aus, sie forderten Reflektion. Sie riefen nicht mehr das Ganze an, sondern stellten das Ihre fest. Tatsächlich traf das Wissen, das sie als reine Wahrheit hinstellten, niemals auf ungeteilte Zustimmung. Von Beginn an herrschte grundsätzlichster Streit unter den Weisen. Wo der eine bemerkte, dass sich in der Natur stets alles wandle, behauptete der andere, dass sich in Wirklichkeit gar nichts verändere. Alles fließt? Sollte dies der Fall sein, wandte der Logiker gegen den Empiriker ein, dann dürfte auch der Grund-Satz „Alles fließt“ keinen Bestand haben, was wiederum die Möglichkeit offen lässt, dass eben doch nicht alles fließt. Und ist es nicht so? Ein Mensch ändert sich im Lauf der Zeit, aber in seinem Wesen bleibt er sich gleich. Der Wind weht, aber als Begriff ist „Wind“ in Stein gemeißelt. Wo Heraklit sich auf die Erfahrung berief, machte Parmenides erfolgreich die Logik geltend. In der Konsequenz vermeinte man hinter dem beseelten Kosmos der empirischen Welt eine zweite, sprachlich verfasste Welt zu erblicken, die weder Tod noch Leben, weder Liebe noch Poesie kannte, sondern nur die stumme, farblose und einfältige, dafür aber verlässliche Ordnung des Begriffs.

Es war Sokrates, der den naiv-wissenschaftlichen Glauben an den Logos zutiefst erschütterte. In seinen Gesprächen mit den versiertesten Sprachexperten Athens drehte es sich nicht mehr um das Thema, das die ersten Philosophen beschäftigt hatte: den Inbegriff der Natur – sondern um den Inbegriff des guten Lebens. Was muss ich tun, um gut zu sein? Die Debattenkönige, die Sokrates befragte, lösten das Problem im Handumdrehen. Sie wussten sofort, worauf es im Leben ankommt: Folge dem Gesetz, das aus einer Reihe anerkannt guter Normen besteht, und du bist ein guter Mensch. Gibt es aber nicht Handlungssituationen, die von keiner Norm erfasst werden? Und reicht zur Begründung der Normen die Anerkennung wirklich aus, da ja doch die Anerkennenden, gleich ob es sich um Bevölkerungsmehrheiten oder ausgewiesene Autoritäten handelt, oftmals Eigeninteressen verfolgen und überdies nie vor Irrtümern gefeit sind? Obwohl Sokrates noch rein gar nichts von den beispiellosen Verbrechen ahnen konnte, die vermeintlich hochzivilisierte Völker einmal im Namen gültiger Gesetze begehen würden, gelang es ihm, die Bescheidwisser gründlich zu verunsichern. Offenbar ließ sich das Gute, wie es sich zweifelsfrei in gewissen Handlungen und Werken zeigt, überhaupt nicht intellektuell herleiten und begründen. Versagt der Logos vor dem Leben? Sokrates sagte, er wisse es nicht. Allenfalls wisse er, dass er nichts wisse.

Für einen historischen Moment war das Nicht-Wissen der Weisheit letzter Schluss; doch schon Sokrates’ Schüler Platon begnügte sich nicht mehr damit. Die Dialoge seines Lehrers aufzeichnend glaubte er bald, das Wissen auf eine sichere Grundlage stellen zu können. Dieses Fundament erschuf er allerdings nicht selbst. Philologen verweisen logischerweise auf Parmenides. Aber kann das stimmen? Ich bezweifle es – und behaupte: Letztlich stützte sich Platon auf das Werk eines längst verstorbenen Sektenführers namens Pythagoras.

Der legendenumwobene Guru aus Samos hatte einen Gegenstand ins Zentrum seines Denkens gerückt, der ganz und gar anders war als die großen, aber auch vagen Begriffe, mit denen die Philosophen sonst operierten. Dieser Gegenstand war die Zahl. Natürliche Zahlen wie 3, 4 oder 5 haben nichts Trügerisches an sich. Sie sind absolut klar und einfach. Sie fließen nicht. Trotzdem spielen sie in alles Wirkliche hinein. Laut Pythagoras entscheiden Zahlenverhältnisse sogar über die Qualität des Wirklichen. Es gibt harmonische und disharmonische Kombinationen. In der Musik beispiels­weise klingen Töne gut zusammen, wenn ihre Schwingungsfrequenzen in bestimmten ganzzahligen Verhältnissen zueinander stehen (1:2 entspricht dem Oktav-Intervall, 1:3 entspricht der Quinte, 1:5 entspricht der großen Terz). In der Architektur machen numerisch fassbare Proportionen den Unterschied zwischen hässlich und schön. In der Geometrie haben Formen, die gewisse Zahlenkombinationen repräsentieren, besonders schöne Eigenschaften (ein Dreieck mit einem Seitenlängen-Verhältnis von 3 zu 4 zu 5 ist ein rechtwinkliges Dreieck, für das bekanntlich der „Satz des Pythagoras“ gilt). Alles in allem klingt in Pythagoras’ Harmonielehre die Ahnung an, dass alles Gute, Schöne und Wahre einen geometrischen oder zahlenmäßigen Hintergrund haben könnte. Die Legende, derzufolge der Meister imstande gewesen sein soll, die Musik der kosmischen Sphären zu vernehmen, verweist denn auch schon auf die Überzeugung Galileis, das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik abgefasst.

Wie dem auch sei. Die zeitlosen Objekte der Mathematik, die in die Zeit hineinwirken, indem sie den irdischen Gegenständen Maß und Proportion verleihen, inspirierten seit Pythagoras alle Denker der Antike. Platon beeindruckten sie so sehr, dass er seinen Idealismus nach ihrem Modell formte: Wie jeder Kreis, den man in den Sand zirkelt, bloß ein unvollkommenes Abbild des nicht darstellbaren, aber anwesenden zeitlosen Objekts „Kreis“ ist, so verhält es sich mit allen irdischen Gegenständen und Gütern – sie sind lediglich blasse Abbilder ewiger Ideen. Dabei meint das griechische Wort idéa nicht etwa Vorstellung oder Einfall, sondern Gestalt oder Urbild. Die platonischen Ideen repräsentieren also keinesfalls irgendwelche anthropogenen Begriffsbildungen oder Konstruktionen, sondern Formen, die genauso real und unabweisbar sind wie Zahlen, Kreise, Quadrate oder Dreiecke. Während die sprachlich verfasste Welt des Parmenides Ideologien hervorbringt, fördert Platons Idealismus das Verständnis für die mathematische Verfasstheit der realen Welt.

Doch natürlich gilt bei alledem: Die Karte ist nicht die Landschaft, und das Grundgesetz ist nicht das Gemeinwesen. So wenig die abstrakten Objekte der Mathematik das konkrete Ganze der Natur erfassen, so wenig erfassen die ewigen Objekte der Ideen den ganzen Platonismus. Die Urbilder, die sich der Philosoph tatsächlich als geometrische Körper dachte, sind für sich genommen nichts anderes als blöde, graue Klötzchen, die der Wirklichkeit zwar Kontur verleihen, aber keine Farbe, keinen Duft und keinen Schwung. Es fehlt die Seele des Ganzen. Es fehlt das Einheit stiftende Prinzip. Es fehlt das Licht, das die Welt mit Leben erfüllt. Die Ideen sind auf dieses Licht nicht weniger angewiesen als die Dinge. Platon verglich dieses auf alles Seiende ausstrahlende Prinzip einmal mit der Sonne. Und diese „überseiende“ Sonne ist eben das Gute.

Man hält inne. Man staunt. Und beginnt sich zu wundern. Zwar leuchtet Platons Konzept unmittelbar ein. Zwar erklärt es das Ganze so zwingend, dass kein Philosoph nach ihm je etwas Vergleichbares hervorbringen konnte. Doch am Ende bleibt alles offen. Man hat den Eindruck, Platon klärte alle Fragen, indem er sie überhaupt erst hervorruft. Denn was ist das Gute wirklich? Ist es „das Eine“? Ist es Gott? Ist es Rousseaus Allgemeiner Wille? Ist es Novalis’ magisches Wort, vor dem „das ganze verkehrte Wesen“ fort fliegt? Ist es, wie Hegel glaubte, das Resultat eines unendlich langwierigen dialektischen Reinigungsprozesses, der die Menschheit Stufe um Stufe dem Absoluten näher bringt? Ist es Heideggers „Seyn“? Ist es das, worüber man nicht reden kann, aber auch nicht schweigen will? Ist es das demokratische Prinzip? Ist es die Weltformel? Ist es das Begehren? Ist es Energie? Vermutlich ist es all dies und nichts von alledem.

Was wirklich gut ist, hat der Apostel Paulus im Brief an die Korinther klargestellt: „Wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.“ All you need is love.

Völlig unbrauchbar und irreführend sind dagegen Begrifflichkeiten wie „positive Energie“ oder „gute Energie“, die das Unbegreifbare der Liebe auf ein physikalistisches Bewegungsprinzip reduzieren. Energie bewegt mich. Aber nur so, wie der Wind den Sand aufwirbelt. Der Sand ist ihr gleichgültig. Der Liebe jedoch ist überhaupt gar nichts gleichgültig. Was mich entflammt und in mir brennt, erleuchtet alles. Liebe ist Liebe des Ganzen.

Platons Theorie wird dem Ganzen vollkommen gerecht, allerdings nicht jedem Teil im Einzelnen. Genau in dieser Unschärfe erblickten einige Naturphilosophen des 17. Jahrhunderts jedoch eine Unzulänglichkeit, mit der sie sich nicht abfinden mochten. Daher errichteten sie auf demselben Fundament, das auch Platon schon fest genug erschienen war, etwas Neues. Die Naturwissenschaft ruht zwar noch auf einem zweiten Pfeiler, dem Experiment, aber ihre große Glaubwürdigkeit beruht wohl doch in erster Linie auf ihrer mathematischen Fundierung. Und das Prestige der Mathematik wiederum rührt daher, dass sie sich heute wie vor zweitausendfünfhundert Jahren mit zeitlosen Objekten beschäftigt, deren Wirken in der Zeit sie nicht erfindet, sondern nur entdeckt. Da diese zeitlosen Objekte tatsächlich überall vorkommen und auch noch mit dem göttlichen Nimbus des Ewigen behaftet sind, nimmt man sie gern für das Ganze, was sie allerdings nicht sind. Eine Welle ist eine Welle und nicht lediglich die Exemplifikation einer Sinuskurve. Und die Gischt, selbst wenn ihre Schattenform sich einmal als Ergebnis eines jetzt noch nicht lösbaren Gleichungssystems darstellen ließe, bleibt die Gischt. Ich kann mich nur wiederholen: Insgesamt bietet die Natur unendlich mehr als zeitlose Objekte. Den Anblick einer Buche im Mai. Die Frische des Wassers an einem Sommertag. Den Sternenhimmel, von Quarzazate aus gesehen. Das Gefühl der Weichheit eines Busens im Traum. Wintersterben, Frühlingserwachen. Das Gute, das unter Umständen darin liegen kann, einen Menschen für eine Idee zu erschießen. Poesie als Kunst, mit Worten anzurühren, was sich mit Worten nicht sagen lässt. Liebe. Die Mathematik bringt über so etwas rein gar nichts in Erfahrung, weil sie nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit zu erfassen vermag. Sie wird ihrem Teil vollkommen gerecht, nicht aber dem Ganzen.

Ungenügen

Die Moral dieser kleinen, unbeholfen erzählten Geschichte des Wissens lautet: Der Geist genügt nicht, wie immer man es auch dreht. Entweder er vernachlässigt über dem Ganzen das Teil, oder er nimmt das Teil für das Ganze. Ein nicht dem Alltagsopportunismus, sondern der Vernunft verpflichteter Ausgleich der Extreme scheint mir zwar grundsätzlich möglich. Allerdings glaube ich, dass man in alter Zeit leichter vernünftig sein konnte als heute, obwohl natürlich sowohl der mathematische Partikularismus als auch der platonische Holismus dazu neigen, totalitäre Regime auszubilden. Aber die Absolute Maschine als der materielle Ausdruck des Zahlendenkens duldet nun mal keine Abweichung, während die platonische Sonne, selbst wenn sie die Realgestalt eines absoluten Monarchen angenommen hatte, naturgemäß auch über Renegaten, Verbrechern und Mystikern schien.

Religiöse Genies wie Jesus, Meister Eckhart oder Franz von Assisi hatten solche umständlichen Erklärungen nicht nötig, um zu ihren Schlüssen zu gelangen. Sie schenkten dem Eindruck mehr Vertrauen als dem Begriff und predigten darum die Armut. Was das aber bedeuten könnte: dem Eindruck Vertrauen schenken – das möchte ich in dem folgenden Abschnitt (der schon da war, bevor ich dies alles geschrieben habe) darlegen. Es geht darin um ganz persönliche, ganz intime Erfahrungen. Ich bin den Gründen für das wiederholte Scheitern meiner künstlerischen Bemühungen nachgegangen und stellte mir zunächst die Frage, wo Kunst eigentlich beginnt.

Inspiration

Womit beginnt der künstlerische Schaffensprozess? Ich glaube, er beginnt mit der Inspiration. Und Inspiration ist Wahrnehmung einer Möglichkeit.

Ein Eindruck fesselt mich. Er beschäftigt mich über das unmittelbare Erleben hinaus, ohne dass ich genau wüsste, warum. Ich messe ihm eine Bedeutung zu, die sich nicht in Worte fassen lässt. Vielmehr liegt die Bedeutung völlig im Dunklen. Weil aber die Anziehungskraft unerklärlicherweise nicht nachlässt, begreife ich den Eindruck mehr und mehr als Symbol, von dem ich glaube, dass ich seinen Bedeutungsgehalt ausschöpfen muss, wenn ich mich selbst erkennen will. Anders gesagt: Die Chiffre scheint in ihrem Grunde etwas zu bergen, das mein Leben steuert und dem ich, um mich zu befreien, auf den Grund gehen muss. In dem Moment, wo die Sehnsucht nach Erkenntnis des Verborgenen umschlägt in konkretes Tun, beginne ich mich von der Last des Eindrucks zu befreien. Das Symbol wird zum Keim von etwas Anderem.

Erstes Beispiel. Zu einem meiner Romanversuche inspirierte mich ein voyeuristisches Erlebnis: Von meiner Wohnung im Vorderhaus eines Münchner Mietshauses sah ich gelegentlich einer Blondine, die im Obergeschoss des Hinterhauses wohnte, beim Leben zu. Die Frau war hübsch, unnahbar, geheimnisvoll. An warmen Sommertagen stieg sie zuweilen durchs Fenster ihres Schlafzimmers auf die oberste Plattform der Feuerleiter, um sich dort zu sonnen. Dieses Motiv faszinierte mich und arbeitete in mir. Am Ende spann ich es zu einer Mordgeschichte aus. Wieso hatte es für mich einen solchen Reiz? Warum entfaltete es eine solch große Kraft? Warum trug es mich durch Monate mühseligster Schreiberei? Wahrscheinlich rührte das Bild an einen Komplex von Ängsten und Sehnsüchten, der mich zeitlebens umtreibt. Konkrete Fassung: Die abweisende Frau, die in unerreichbarer Höhe lebt, könnte die erwartungsvolle Frau sein, die mir einen Weg bahnt, dessen Nutzung allerdings verboten ist. Abstrakte Fassung: Fortschritt im Menschlichen setzt Überschreitung voraus – ein uraltes, ewig junges Motiv.

Zweites Beispiel. Zu meinem Song „Wunderbar“ inspirierte mich die Akkordfolge des Refrains von Nenas Lied „Nur geträumt“. Dem Refrain „Ich hab’ heute nichts versäumt, denn ich hab’ heut’ von dir geträumt …“ liegt die mehrmals wiederholte Kadenz G/C/G/D (Tonika, Subdominante, Tonika, Dominante) zugrunde. Die Figur gleicht einer Welle, die sich im Raum ausbreitet und dabei immer bleibt, was sie ist, nämlich ein gleichmäßiges Auf- und Abwogen. Stets folgt dem Wellenberg (Subdominante) ein Wellental (Dominante). Stets sorgt ein neutrales Kraftzentrum (Tonika) für den Ausgleich der Extreme. Das wogende Kontinuum hat eine ambivalente Wirkung. Es lullt ein und regt an. Weil ständig etwas abgeschlossen wird, bleibt alles in der Schwebe; weil alles in der Schwebe bleibt, steigert sich das Verlangen nach einem Abschluss. Weather Report haben das Schema am Ende des Stücks „A Remark You Made“ mit Jaco Pastorius’ infiniter Bassmelodie künstlerisch atemberaubend in Szene gesetzt. Doch im Grunde sind solche Schemata allgegenwärtig in der Musik. Sie begegnen einem in der Tanzmusik aller Zeiten, aber auch in hehren Kunststücken von Monteverdi („Lamento della Ninfa“) über Ravel („Bolero“) und Strawinski („Le Sacre du Printemps“) bis hin zu John Coltrane ( „A Love Supreme“) und Brian Wilson („Cool Cool Water“). Dabei lässt sich der Eindruck der Welle nicht nur durch die litaneiartige Wiederholung relativ kurzer Phrasen erzeugen. In gewisser Weise stellt jedes musikalische Werk insofern eine Wellenformation dar, als die variierende Wiederholung eben das grundlegende Strukturprinzip der Musik ist. Egal ob „Die Kunst der Fuge“ oder „Sex Machine“: Das Meer wogt in jeder Musik. Und ist sie nicht sowieso die Kunstform des grundsätzlichsten – manchmal fröhlich, manchmal tragisch getönten – Einverständnisses mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen? So höre ich sie jedenfalls, und so liebe ich sie. Ich liebe auch den Wechsel von Tag und Nacht, den Wochenrhythmus, den Jahreszyklus. Ich mag die Vorstellung des Lebens als Bogen, der „kehret, woher er kommt“. Ich schätze Erneuerung im Sinne von Rekreation, nicht im Sinne von Erfindung. Von mir aus muss sich nichts ändern. Ich bin einverstanden. Ich lasse es gut sein.

Das Leben annehmen. Gesetzte Grenzen überschreiten. Das sind die Motive, die meinen Inspirationen zugrunde liegen. Das sind die Möglichkeiten, die mir offenstehen. Sie scheinen sich zu widersprechen, und tatsächlich dachte ich immer, ein Ausgleich sei nur in Form eines irgendwie gearteten Kompromisses möglich. Deshalb habe ich kompromisslerische Kunst fabriziert, kleine Fluchten gesucht und ein genügsames Leben geführt. Heute denke ich anders über meine Grundmotive. Annehmen und Überschreiten fielen in eins, sagt mir eine innere Stimme, wenn du dich nur ein kleines bisschen bewegtest. Wohin? Nach draußen. Mach es wie der Mann aus Assisi, der auch ein genügsames Leben führte, bevor er sich aller seiner Kleider entledigte und nackt vor die Tür trat – nicht, um der Heilige Franziskus zu werden, sondern um in das Sein einzutreten. Überschreite die Schwelle zur Armut. Platons Sonne scheint draußen.

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