Teil und Ganzes in Wahrnehmung und Gestaltung

Eigentlich wollte ich nur ein paar Fakten zur Wahrnehmung zusammentragen, um mich für kunstgeschichtliche Diskussionen zu rüsten. Irgendwann kam mir dann der Gedanke, dass wir ja stets mehr vor Augen haben als wir sehen. Dieser Gedanke erschien mir so bedeutsam, dass ich ihn dem Ganzen nachträglich als Fundament unterlegt habe.     

Vom Eindruck

Die Welt ist im Eindruck anwesend. Das ist der Grundsatz, von dem ich bei der Betrachtung der Wahrnehmungs­phänomene ausgehe. Ich will damit sagen, dass die Gegenstände der äußeren Welt als isomorphe Abbilder in die Wahrnehmung eingehen und selbst dann als solche wirksam bleiben, wenn sie sich im weiteren Bewusstseinsakt zu Symbolen gewandelt haben, die für etwas einstehen, das sie selbst nicht mehr vollständig verkörpern. Mit anderen Worten: Die Welt beeindruckt uns über alles hinaus, was wir an ihr begrifflich, bildlich oder mathematisch zu erfassen vermögen oder zu erkennen glauben. Ein Beispiel. Gewisse Symbole der Aufmachung und Haltung stempeln die Frau, die dort an der Hauswand lehnt, zur Prostituierten. Es wäre gewiss nicht falsch, die Frau eine Prostituierte zu nennen. Doch ist diese Wahrheit alles andere als die ganze Wahrheit. Denn allem Anschein nach ist die Frau nicht bloß eine Prostituierte. Sie ist auch nicht bloß eine Frau. Sie ist schon gar nicht bloß ein Mensch. Allem Anschein nach ist sie diese Person, die dort an der Hauswand lehnt. Das heißt: Im abstrakten Urteil bekunde ich nur meine Weltanschauung, im konkreten Eindruck zeigt sich mir die Welt. Und es ist der im Eindruck aufscheinende Überschuss, der es mir ermöglicht, in jedem Ding mehr zu sehen als den Stempel, den ich ihm aufgedrückt habe.

Idealistische Intellektuelle glauben seit ewigen Zeiten, es seien die Trottel, die in Platons Höhle fest sitzen. Dabei sind sie es selbst, die das Wahre in der Schattenwelt der Begriffe suchen, während es die einfachen Leute wenigstens hin und wieder ans Licht der Tatsachen zieht. Wer seine Augen und Ohren aufmacht, wird die Welt als eine an Wundern und Abgründen überreiche Landschaft wahrnehmen. Wer sich die Welt dagegen als beliebig bespielbare Projektionsfläche denkt, rennt über kurz oder lang mit dem Kopf gegen einen Baum.

Andererseits ist Wahrnehmung naturgemäß ein intentionales Geschehen. Je nach der Absicht, die ich verfolge (Noësis), sehe ich den Gegenständen diese oder jene Inhalte ab (Noëma). Ich sehe, was ich vermeine zu sehen. Ich sehe, was ich weiß, glaube, brauche oder begehre. Ich gehe mit akuten Bedürfnissen, mit persönlichen Interessen und Neigungen, mit biologischen und beruflichen Dispositionen, mit kulturell geprägten Sichtweisen an die Dinge heran. Ich habe ein Weltbild. Ich habe etwas Bestimmtes vor. Alle diese Bedingungen fließen in die Wahrnehmung ein und führen dazu, dass der Eindruck, den ich von einem Gegenstand gewinne, so sehr mein Eindruck ist, dass das Objekt selbst kaum eine Spur darin zu hinterlassen scheint. Aber die Spur ist da. Die Welt ist im Eindruck anwesend. Ich habe stets die Möglichkeit, die Frau an der Hauswand kennenzulernen – und zwar nicht nur als die, zu der sie gemacht wurde, sondern auch als die, die sie ist.

Der Eindruck verleiht der Welt einen Sinn und bewahrt zugleich ihre Gestalt. Er hat eine subjektive Seite, und auf diese berufen sich mit einigem Recht die konstruktivistischen Erkenntnistheoretiker. Aber er hat auch eine objektive Seite, und diese erfüllt die Bedingung der Möglichkeit einer realistischen Weltsicht. Berücksichtigt man beide Seiten der Wahrnehmung, gelangt man zu jenem perspektivischen Realismus, den die Alltagserfahrung zu allen Zeiten und immer wieder aufs Neue bestätigt.

Über Wahrnehmungsbegriffe

Wikipedia definiert Wahrnehmung folgendermaßen: „Wahrnehmung ist der Prozess und das Ergebnis der Informationsgewinnung und -verarbeitung von Reizen der Umwelt (..). Dies geschieht durch das unbewusste und/oder bewusste Filtern und Zusammenführen von Teil-Informationen zu subjektiv sinnvollen Gesamteindrücken. Diese werden auch Perzepte genannt und laufend mit den als innere Vorstellungswelt gespeicherten Konstruken oder Schemata abgeglichen.“ Diese Bestimmung stellt den Eindruck nicht an den Anfang des Wahrnehmungsprozesses, sondern an sein Ende. Information wird als ein Geschehen aufgefasst, dass induktiv vom Atom (Reiz) über den Teil zum Ganzen (Gesamteindruck) fortschreitet. Abgesehen von diesen meiner Ansicht nach irrtümlichen oder missverständlichen Einschätzungen, führt die Definition einige aussagekräftige Begrifflichkeiten ein. Die „innere Vorstellungswelt“ mit ihren „Konstrukten“ und „Schemata“: Was hat es damit auf sich? Zwei Beispiele.

Gesichter sind Ganzheiten, die wir offenbar augenblicklich erfassen. Das heißt, wir müssen das Mienenspiel des Gegenübers nicht „lesend“ abtasten, um es deuten zu können. Statt dessen vermittelt uns die Wahrnehmung einen Gesamteindruck, so dass wir den physiognomischen Charakter des Gegenübers ohne Umschweife erkennen. Grobschlächtig oder fein geschnitten, sympathisch oder abstoßend, stumpf, interessant, geheimnisvoll: der Charakter scheint im Gesicht auf – und steht dem Gegenüber nicht „ins Gesicht geschrieben“. Noch einmal: Wir müssen beim Wahrnehmen nicht bewusst „denken“, also irgendwelche begrifflichen Unterscheidungen treffen oder gar bestimmte Merkmale eigens benennen (wenn ich von einem „zarten“ Gesicht spreche, verfälsche ich den visuell wahrgenommenen Gesamteindruck eigentlich schon, weil ich ihn erstens auf ein einziges Merkmal reduziere und zweitens unterschlage, dass „Zartheit“ selbst unendlich viele Ausdrucksformen annehmen kann). Allerdings kommt solch ein umfassender Gesamteindruck wohl doch nicht ohne weiteres zustande. Genauer gesagt: An seinem Zustandekommen müssen die Wahrnehmungs­erfahrungen, die wir im Laufe des Lebens gemacht und verinnnerlicht haben, in irgendeiner Weise beteiligt sein. Wenn wir als Kind europäischer Eltern von Geburt an vor allem in europäische Gesichter geblickt haben, so kennen wir als Erwachsene unglaublich viele derartige Gesichter. Diese Physiognomien müssen sich uns irgendwie als Muster eingeprägt haben, sonst könnten wir zwar vielleicht bekannte Gesichter wiedererkennen, aber keine typischen Gesichtsformen erkennen. Bei der Wahrnehmung eines neuen Gesichts greifen wir in irgend einer Weise auf diesen Erinnerungsschatz der „inneren Vorstellungswelt“ zurück. Wenn Gesichter uns fremd sind, wenn sie also in vielerlei Hinsicht von den Mustern abweichen, die wir im Zuge unserer persönlichen Erfahrung verinnerlicht haben, nehmen wir sie zwar auch als Ganzes wahr, erkennen ihren Charakter jedoch längst nicht so umfassend und genau, wie das bei vertrauten Gesichtern der Fall ist. Die Gesichter von asiatischen Menschen etwa erscheinen uns Europäern oft merkwürdig unspezifisch, ähnlich, nichtssagend, breiig.

Bei der Musik ist es ähnlich. Schon ihre Wirkung – und nicht erst ihr „Verständnis“ – setzt das Vorhandensein internalisierter Muster voraus. Wem die Formen traditioneller indischer Ragas , balinesischer Gamelanmusik oder auch „Neuer Musik“ nicht vertraut sind, kann mit diesen Klängen in der Regel sehr wenig anfangen. Wir nehmen das Ganze wahr, registrieren aber lediglich gewisse Schwankungen in Tempo, Lautstärke, Klangdichte und Klangfärbung, so dass wir allenfalls einen atmosphärischen Eindruck gewinnen. Fremdartige Musik kann also zwar durchaus Stimmungen erzeugen, aber den Emotionen fehlt es an Tiefe. Diese Tiefenwirkung ist die Folge des Abgleichs von Höreindrücken mit internalisierten Mustern (die Muster der europäischen Funktionsharmonik sind den meisten von uns in Fleisch und Blut übergegangen, da wir sie bereits in der Wiege kennen und lieben lernen).

Wörter wie „Konstrukt“ oder „Schema“ verweisen letztlich wohl auf identisch wiederkehrende Routinen im Ablauf neuronaler Ereignisse. Egal ob man solche Muster als gestalthafte Figuren oder digitale Codes deutet: Aufgrund der Tatsache, dass sie nicht-identische Gegebenheiten in identische Formen zwingen, repräsentieren sie in jedem Fall so etwas wie elementare Begriffe . Allerdings unterscheiden sich diese Wahrnehmungsbegriffe in einigen Punkten wesentlich von den meist sprachlich fixierten Allgemeinbegriffen. Diese lassen sich beliebig aus Kontexten herauslösen, jene wirken stets im Gesamtzusammenhang aller inneren und äußeren Wahrnehmungsereignisse. Diese sind konventionell, jene sind Resultat der Geschichte individueller Eindrücke und daher persönlich. Beide heben das Gleiche im Verschiedenen hervor, aber während der Allgemeinbegriff das abstrakte Ergebnis der Subsumierung festhält, bleibt der Wahrnehmungsbegriff, der an die ihn erst hervorrufende konkrete Situation gebunden ist, offen für den Unterschied. Im Denken degeneriert das Objekt zum bloßen Beispiel für ein intellektuelles Konstrukt. In der Wahrnehmung dagegen figuriert das Objekt als das Andere, dem das Subjekt das Eigene aufprägt, um des Fremden gewahr zu werden.

Selektion und Integration

Die o.g. Definition besagt ferner, dass die Ganzheiten, die wir wahrnehmen, durch Filtern und Zusammenführen von Sinnesdaten entstehen. Auch das leuchtet mir ein.

Zum Filtern. Die Eskimos unterscheiden bekanntlich zwischen vielerlei Arten von Schnee. Während sie diese Unterschiede wirklich sehen, nehmen Europäer sie in der Regel nicht wahr, auch wenn sie tatsächlich vorhanden sind. Weil diese Unterschiede nicht relevant sind in unserem Alltagsleben, gibt es keine Wahrnehmungsbegriffe dafür. Folglich werden die Sinnesdaten, die diese Unterschiede repräsentieren, im Wahrnehmungsprozess ausgefiltert. Übrig bleibt – im Extremfall – eben die Wahrnehmung einer weißen, in sich nicht weiter differenzierten Schneedecke.

Zum Zusammenführen. Ein interessanter Sonderfall des Zusammenführens von Sinnesdaten liegt zum Beispiel dann vor, wenn die Wahrnehmung uns etwas vorgaukelt. Jeder kennt das Phänomen: Ein Pfahl in der Landschaft wird als menschliche Gestalt, eine Blume im Fenster gegenüber als Kopf wahrgenommen. Es handelt sich hierbei eigentlich um Selbsttäuschungen. Rudimentäre Ähnlichkeiten des Objekts mit internalisierten Schemata sorgen dafür, dass Sinnesdaten im Wahrnehmungsprozess so verknüpft werden, dass der Geist ein Ganzes hervorbringt, das einen Menschen beziehungsweise einen Kopf darstellt.

Ein Fall von Synästhesie

Afrikaner unterscheiden sich allein aufgrund ihrer dunklen Hautfarbe extrem von den weißhäutigen Menschen, deren Physiognomien mir seit meiner Kindheit vertraut sind. Hinzu kommen, je nach Herkunft des Schwarzen, mehr oder weniger ausgeprägte negroide Züge, die seine Physiognomie unter Umständen noch fremdartiger wirken lassen. Wenn solch ein Mensch nun Französisch oder Suaheli spricht, dann nehme ich ihn als den Fremden wahr, der er ist. Spricht er gebrochen Deutsch, tritt die Fremdheit eher noch deutlicher hervor. Spricht er aber so perfekt Deutsch wie ein Muttersprachler, dann passiert manchmal etwas Verblüffendes: Sein Gesicht erscheint mir plötzlich typisch deutsch (je nach mundartlicher Färbung sieht der Fremde sogar wie ein typischer Niedersachse, Bayer etc. aus). Offensichtlich handelt es sich hier um einen Fall von Synästhesie: Ein visuell wahrgenommenes Bild wird modifiziert durch auditiv vermittelte Eindrücke vom Sprachduktus des Gegenübers.

Der Fall wirft grundlegende Fragen auf. Ist der Eindruck, den ich von dem plattdeutsch sprechenden Afrikaner gewinne, eigentlich zutreffend? Ist das durch akustische Figuren überformte Bild eine Täuschung, genauer gesagt eine Wahrnehmungstäuschung?

Ein Konstruktivist würde hier sicherlich einhaken und darauf hinweisen, dass die Frage gar nicht relevant sei. Vielmehr sähe er in dem Fall einen Beleg dafür, dass wir gar keinen Zugang zu objektiven Wahrheiten hätten, sondern darauf angewiesen seien, unsere eigenen Wahrheiten zu konstruieren. Wir würden dem einströmenden Sinnesmaterial eben einfach „unsere“ Muster aufprägen, und diese Muster wären nichts anderes als codierte Konventionen.

Ein Logiker würde vielleicht folgende Überlegung anstellen: Entweder hat der Afrikaner eine fremde Physiognomie oder er hat eine vertraute Physiognomie. Ein und nur ein Eindruck entspricht den wirklichen Verhältnissen, der andere muss eine Täuschung sein. Da es sich bei einem „Gesicht“ um eine visuelle Gegebenheit handelt, kommt den optischen Reizen ein größeres Gewicht zu. Daher ist der Eindruck der Vertrautheit wahrscheinlich eine Täuschung.

Beide Überlegungen sind natürlich nicht schlichtweg falsch, dennoch kommt ihnen nur eine beschränkte Gültigkeit zu, weil sie lediglich intellektualistische Positionen wiedergeben. Sowohl der Logiker als auch der Konstruktivist beziehen sich mit ihren Urteilen auf den von der Wahrnehmung abgezogenen Begriff und geben damit die zu einem gegebenen Zeitpunkt wahrgenommene Gestalt für das quasi überzeitlich gültige Resultat der Rezeption aus. Gegen solche voreiligen Feststellungen gilt es, die Wahrheit der Wahrnehmung ins Feld zu führen, und die lautet, um es mit Frank Zappa zu sagen: The torture never stops. Die Wahrnehmung hört nie auf. Der Schleier des „Deutschen“, den ich durch Filtern und Zusammenführen von Sinnesdaten verfertigt und dem Afrikaner übergeworfen habe, kann zerreißen, sobald mein Gegenüber verstummt. Haben wir weiterhin miteinander zu tun, bekommt das Bild ohnehin eine immer größere Tiefe: Nach und nach fallen die konventionellen Masken, während die individuellen Charakterzüge immer deutlicher hervortreten. Wahrnehmend komme ich der Wahrheit näher, während ich sie durch ein Begriffsurteil, mag es auch noch so gut begründet sein, mit absoluter Sicherheit verfehle. In den Worten Alfred North Whiteheads: „The exactness is a fake.“

Figur, Grund, Teil, Ganzes

Die gestalthafte Ganzheit, die durch den selektiven Wahrnehmungsakt von der Totalität des sinnlich Gegebenen abgesondert wird, heißt in der Gestaltpsychologie Figur. Der unspezifische Rest, vor dem sich die Figur abhebt, heißt Hintergrund. Konrad Lorenz: „Die Gestaltwahrnehmung ermöglicht es, eine im komplexen Naturgeschehen obwaltende Gesetzlichkeit unmittelbar zu erfassen, d. h. aus dem Hintergrund der zufälligen, nichtssagenden Information herauszugliedern, die uns von unseren Sinnesorganen und niedrigeren Wahrnehmungsleistungen gleichzeitig übermittelt werden.“

Nun kann eine Figur Komposition, aber auch Glied einer Komposition sein. Wenn ich zum Beispiel einer Symphonie lausche, dann kann ich meine Aufmerksamkeit durchaus auf verschiedene Figuren richten – so etwa auf das klangliche Gesamtgeschehen oder auf eine einzelne Melodielinie. Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Figuren in aller Regel sowohl Bestandteile haben als auch selbst Bestandteile größerer Einheiten sind, führe ich folgende Sprachregelung ein. Wird eine Figur als in sich differenzierter Gegenstand wahrgenommen, ist sie ein Ganzes (ein Gemälde, ein Gesicht, eine Hausfassade). Wird eine Figur als in größere Zusammenhänge eingebundener Gegenstand wahrgenommen, dann ist sie ein Teil (ein einzelnes Bildmotiv, der Mund, die Haustür). Wenn ich ein einzelnes Kunstwerk lediglich als Ganzes betrachte, dann bestimmt die Gesamtheit der Relationen seiner Bestandteile mein „Bild“ von dem Werk, während alle anderen Bezüge (Entstehungsgeschichte, Zeitstil, gesellschaftshistorische Wechselwirkungen etc.) in den Hintergrund treten. Betrachte ich das Kunstwerk hingegen lediglich als Teil eines größeren Ganzen, dann fließen vielerlei das Werk determinierende Faktoren historischer, psychologischer oder logischer Art in die Wahrnehmung ein. Beide Betrachtungsweisen müssen zusammenwirken, will man dem Werk gerecht werden.

Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess. Statt ausschließlich und dauerhaft eine vom Hintergrund A abgesonderte Figur b zu fixieren, lenken wir unsere Aufmerksamkeit in Wirklichkeit zu immer neuen Figuren. Wenn wir den Blick schweifen lassen, können diese Figuren (c,d, e …) im Bereich des Hintergrundes A liegen. Wenn wir hingegen die möglicherweise in b eingebundenen Details (f, g, h …) ins Auge fassen, wird b zum neuen, unspezifischen Hintergrund B. Im tatsächlichen Wahrnehmungsprozess „figurieren“ also dieselben Objekte manchmal als Ganze, manchmal als Teile, manchmal als Hintergründe. Beispiel: Wenn ich eine Landschaft mit einem Haus, einem Hügel und einem Fluss betrachte, dann kann ich das Haus als Teil der Landschaft, aber auch als ein in sich gegliedertes Ganzes wahrnehmen. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf ein Fenster richte, bildet das Haus einen unspezifischen Hintergrund.

Phänomenologie der Wahrnehmung

Wenn auch nicht alles Vorhandene empfunden und nicht alles Empfundene wahrgenommen wird, müsste man natürlich auch die Totalität des sinnlich Gegebenen ein Ganzes nennen. Auf diese Totalität bezieht sich Georg Wilhelm Friedrich Hegel aber wohl gerade nicht, wenn er sagt: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist.“

Hegel spricht hier von der geistigen Durchdringung der sinnlich gegebenen Natur, von der Aufhebung der Welt im Intellekt. Dabei legt der Philosoph größten Wert darauf, dass „Aufhebung“ eben nicht nur Beseitigung, sondern auch Bergung und Erhöhung meint. Leider nimmt die Dialektik der Aufklärung wohl keine Rücksicht auf die Wertmaßstäbe des Denkers oder überhaupt eines Menschen. Ihr Geschäft ist die Verwandlung von Natur in Geschichte, brutal gesagt: die Beseitigung der Natur. Am Ende ist das Ganze nur noch das Wahre und nichts anderes mehr. Der Augenschein tut nichts mehr zur Sache. Die im Eindruck anwesende Welt ist verkommen zu einer verstandenen Wüste.  

Das ist der Schwachpunkt jedes Intellektualismus: Indem er das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen lediglich als inferiores Beiwerk des intellektuellen Betriebs begreift, verfehlt er die augenscheinliche Wahrheit. Berücksicht man nämlich die Sinnlichkeit, ist das Absolute nicht erst am Ende „das, was es in Wahrheit ist“, sondern am Anfang. Denn was kann das Absolute anderes sein als das Einssein, das bereits auseinanderzufallen beginnt, wenn sich einem Säugling das Gesicht der Mutter einprägt!

Wenn wir in dem offenbar unvermeidlichen Bestreben, das Absolute in der Geschichte zu realisieren, ausschließlich auf unser intellektuelles Vermögen setzen, bereiten wir uns ein Paradies, in dem mit dem Leiden auch das Leben verschwindet.

Für Hegel, der sich ausschließlich für das geistige Leben interessiert, stellt sich die Sache natürlich ganz anders dar: „Der Anfang, das Prinzip oder das Absolute, wie es zuerst und unmittelbar ausgesprochen wird, ist nur das Allgemeine“, sagt er und erläutert den Gedanken durch ein treffendes Beispiel. Der Ausspruch „alle Tiere“ sei noch keine Zoologie. Stimmt. Andererseits ist eine Zoologie ohne Tiere auch nicht ganz das Wahre. Aber auf genau diesem Abstraktions- und Differenzierungsniveau scheint die biologische Forschung inzwischen zu operieren: Der Erkenntnis der Lebensprinzipien wird das Lebendige geopfert.

Ist eine andere Wissenschaft denkbar? Eine Wahrnehmungswissenschaft? Als Wissenschaft des Konkreten könnte sie beim Entwurf einer Zoologie nicht mit „allen Tieren“ beginnen. Den Anfang würde ein Tier machen, und zwar kein beliebiges, sondern ein bestimmtes. Und dieses bestimmte Tier würde, indem ich es in meine Wahrnehmung hineinnehme, zu meinem Tier. Ich würde es studieren. Ich würde es kennen lernen. Und am Ende würde ich es wahrscheinlich in allen Tieren wiedererkennen.

In Wirklichkeit führt die Wahrnehmung natürlich nur dann zu einer Wissenschaft, wenn man sie als Vorstufe und Bedingung der Kognition begreift. Als Vermögen sui generis führt sie bestenfalls zur Kennerschaft. Aber ist das nichts? Die Welt der Wissenschaft ist eine verstandene Wüste, die Welt der Kennerschaft ist eine vertraute Wildnis.

Wahrnehmung und Gestaltung

Wahrnehmung ist rezeptive Gestaltung. Gestaltung ist produktive Wahrnehmung. Was soll das heißen?

Wenn sie lediglich der Orientierung in der Umwelt dient, ist Wahrnehmung ein flüchtiges Geschehen, das sich mit dem Verfertigen gröbster Gesamteindrücke begnügt, die oftmals noch nicht einmal ins Bewusstsein gelangen. Jederzeit kann dieses flüchtige Geschehen jedoch einen Halt finden an Ganzheiten, die aus irgendeinem Grund (Gefahr, Liebreiz, Interesse) intensiver wahrgenommen werden. Dieses intensivere Erfassen einer Ganzheit – sei es eine menschliche Gestalt, ein Gesicht, eine Landschaft oder ein Artefakt – nenne ich Rezeption.

Rezeption unterscheidet sich nach meinem Verständnis fundamental von der analytischen Untersuchung. Bei der Analyse werden wahrgenommene Ganzheiten in (Allgemein-)Begriffe transformiert und wahrgenommene Teil-Ganze-Relationen als Strukturbeziehungen gedeutet. Begriffe und Strukturen liefern zwar reichhaltiges Material für weitere – und auch wertvolle – Erkenntnisse, doch geht dieser Gewinn auf Kosten der Wahrnehmung. Durch Begriffe werden Ganzheiten auf bestimmte Merkmale reduziert, durch Strukturierung werden bestimmte Relationen vor anderen ausgezeichnet. Analytische Erkenntnis ist wesentlich Feststellung des potenziell unendlichen Prozesses der Rezeption. Sie klärt Dinge, indem sie von ihnen absieht.

Zur Rezeption wird der Wahrnehmungsprozess dann, wenn er darauf abzielt, den Gesamteindruck einer Ganzheit durch fortwährendes Absondern und Zusammenführen von Teilen immer weiter zu vertiefen. Wenn ich ein Gesicht „rezipiere“, begnüge ich mich nicht mit dem ersten Eindruck, sondern mache mir ein sowohl umfassenderes als auch detailreicheres Bild von meinem Gegenüber. Dazu richte ich meine Aufmerksamkeit beispielsweise von der Augenpartie weg auf die Mundpartie. Dabei nehme ich den Mund selbst weder als isoliertes Teil noch als isolierte Ganzheit wahr, sondern als Teilganzes, das sowohl Bestandteile hat (Oberlippe, Unterlippe, Mundwinkel, Zähne usw.) als auch selbst integraler Bestandteil von Umgebungen ist (z.B. die untere Gesichtshälfte mit Wangen, Kinn, Nasenflügel usw.). Der Abgleich dieses in eine Vielzahl von Relationen eingebundenen Teilganzen mit internalisierten Schemata liefert mir einen Eindruck von dem „Mund“ der betrachteten Person und dieser Eindruck wiederum trägt zur Vertiefung des Gesamteindrucks bei, den das Gesicht auf mich hat.

Rezeption ist insofern nicht ins Belieben gestellt, als sie von einem gegebenen Ganzen ausgeht, das der Rezipient zu vervollkommnen trachtet. Frei ist sie jedoch insofern, als das Prozedere des Absonderns und Zusammenführens von Teilganzen dem Rezipienten überlassen bleibt, der es eben so weit treiben kann, wie er will oder vermag.

Selektion und Integration von Teilganzen im Hinblick auf ein zu vervollkommnendes Ganzes kennzeichnet sowohl die wahrnehmende als auch die gestaltende Aktivität. Der Unterschied liegt darin, dass der Wahrnehmungsprozess bei der gegebenen Ganzheit ansetzt, die der Rezipient sich anschließend geistig anverwandelt, während der Gestaltungsprozess bei einer vorgestellten Ganzheit ansetzt, die der Produzent anschließend real hervorbringt. Dabei bedarf der Ausdruck „vorgestellte Ganzheit“ einer Erklärung. Damit ist nicht unbedingt so etwas wie ein Konzept oder ein Plan gemeint. Zwar gibt es Gestalter, die eine Idee zunächst einmal mehr oder weniger fein ausarbeiten müssen, bevor sie den (skizzierten, modellierten oder imaginierten) Entwurf endgültig realisieren können. Andere jedoch beginnen ohne Umschweife mit der eigentlichen Arbeit. Aber auch der impulsivste und improvisierfreudigste Künstler agiert von Anfang an im Hinblick auf ein Ganzes, dessen Gestalt sich spätestens mit der allerersten Setzung (dem ersten Ton, dem ersten Strich, der ersten Geste) geistig und real zu verfestigen beginnt.

Gestaltung ist ein zugleich induktiver und deduktiver Prozess. Die Idee des Ganzen wird durch die Realisierung der Teile mehr und mehr bestimmt und bestimmt dadurch mehr und mehr die Realisierung der Teile. Kennzeichnend für den Prozess ist also eine ständige wahrnehmungskontrollierte Rückkopplung zwischen dem Tun und der Imagination.

 Plus Ultra

Gestalten Spatzen das Nest, das sie bauen? Gestalten Pflegeroboter den Umgang mit ihren Schutzbefohlenen? Sicherlich wäre weder die Tätigkeit des Vogels noch diejenige des Roboters ohne sensorisch kontrollierte Rückkopplung möglich. Trotzdem sprechen wir beiden, dem Spatz wie dem Roboter, die Gestaltungsfähigkeit ab – und mit Recht. Der Spatz käme nie und nimmer auf die Idee, ein doppelstöckiges Nest zu bauen. Der Roboter käme nie und nimmer auf die Idee, seine Schutzbefohlenen zu berauben. Beide leisten ganze Arbeit innerhalb eines vorgegebenen Rahmens. Die willkürliche Setzung des Rahmens ist dem Menschen eigentümlich.

Spatzen und Roboter unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht, aber auch grundlegend voneinander. Es besteht eine ontologische Differenz zwischen Tieren und Maschinen. Als unsere Mitgeschöpfe haben Tiere nicht nur einen Wert, sondern auch eine Würde. Maschinen dagegen mögen wertvoll sein, aber eine Würde kommt ihnen nicht zu. Man kann Maschinen kaputt machen, aber nicht töten. Trotz dieses fundamentalen Unterschieds wäre es ja denkbar, dass die „autonome“ Maschine“ und das Tier bei der Bewältigung ihrer Aufgaben ähnlich vorgehen.

Schauen wir uns zunächst die Automaten an. Ihnen wird die Fähigkeit der Mustererkennung zugesprochen. Es fragt sich allerdings, in welcher Weise ein Produktionsroboter sein Arbeitsstück oder ein Türöffnungssystem den richtigen Fingerabdruck „erkennt“. Auf den ersten Blick scheint etwas ganz Ähnliches zu geschehen wie bei der Wahrnehmung: Es findet ein Abgleich des sensorisch Gegebenen mit dem intern Gespeichten statt. Im Falle der autonomen Systeme findet sogar so etwas wie ein Lernprozess statt, weil jeder neue Mustereindruck das Musterreservoir des Speichers erweitert und modifiziert. Solche Systeme können nicht nur innerhalb des ihnen vorgegebenen Rahmens immer bessere Arbeit leisten, sie können den Rahmen auch erweitern. Aber können sie über ihn hinausschauen?

Denken wir uns einen Jagdroboter, der mit einem lernfähigen, auf Hirsche geeichten Zielerkennungssystem ausgestattet ist. Solch ein Gerät wird sich von Einsatz zu Einsatz besser darauf verstehen, zum Abschuss freigegebene Hirsche in freier Wildbahn auszumachen und anzuvisieren. Muss seinem sensorischen Apparat zu Anfang noch die gesamte Silhouette eines Tieres dargeboten werden, genügt vielleicht schon bald die aus einem Gebüsch ragende Spitze des Geweihs, um ein Objekt als Ziel zu identifizieren. Zweifellos würde es nicht lange dauern, bis der Roboter jedem menschlichen Jäger überlegen wäre, zunächst allerdings nur hinsichtlich der Hirschjagd. Der Jäger, der schließlich auch Hasen, Rebhühner und Rehe zu jagen imstande ist, hätte der Maschine immer noch sehr viel voraus. Aber kann er sich seines Vorsprungs wirklich sicher sein? Hat nicht der Roboterhersteller bereits die Markteinführung des Modells 2.0 für die nächste Jagdsaison angekündigt? Ganz gewiss hat er es. Und Lernprogramm, Datenbank und Sensorium dieses Automaten sind eben so ausgelegt, dass er auch Hasen, Rebhühner, Rehe und Füchse zu erkennen und zu jagen vermag. Und das bereits in der Testphase befindliche Modell 3.0 spürt getötete Tiere auf, Modell 4.0 waidet sie aus, Modell 5.0 liefert zwischendurch „schöne Ausblicke“, so dass der Jäger an seinem häuslichen Bildschirmarbeitsplatz nicht immer nur den Tod, sondern auch mal etwas Erfreuliches vor Augen hat. Und so geht es weiter. Mit jedem neuen Modell erweitert sich das Fassungsvermögen des Roboters, der auf den Jäger nur noch insofern angewiesen bleibt, als es schließlich jemanden geben muss, der das Gerät bzw. seine Programmerweiterungen kauft. Doch trotz der professionellen Überlegenheit der Maschine wird es sich der Jäger vermutlich nicht nehmen lassen, hin und wieder auf die Pirsch zu gehen. Ganz einfach deshalb, weil die Jagd ihm Freude bereitet. Und es war nie das Aufspüren der Beute und das Töten allein, das ihn in die Wälder zog. Nie saß er ausschließlich als Jäger auf seinem Hochsitz. Er konnte sich dort mit allem Möglichen beschäftigen: mit dem Spinnennetz im Morgenlicht, mit den Blumen auf der Waldlichtung, mit dem Geruch, der Idee, der Musik und der Mystik des Waldes. Er konnte sich in Ruhe mit seinen Geldproblemen beschäftigen oder mit seinem Penis. Er konnte den Hirsch, der ihm vor die Flinte lief, nach Belieben verschonen, weil er ihm zu jung erschien oder zu schön oder zu gewaltig. Ja, einmal hatte er ein Tier verschont, weil ihm bei seinem Anblick ein Schauer über den Rücken gelaufen war. Er hatte es niemandem erzählt, und wie auch! Hatte er doch in den Augen des Tieres Gott gesehen.

Ich will damit sagen: Maschinen mögen fähig sein, den Rahmen ihrer Tätigkeiten selbstständig zu erweitern, aber sie agieren stets innerhalb dieses Rahmens. Anders gesagt: Der Horizont ihrer Möglichkeiten wird immer auf den Horizont ihrer Wirklichkeit begrenzt sein. Für die Systeme der künstlichen „Intelligenz“ – einschließlich des Internet – gibt es kein Plus Ultra. Nur welthaltigen Wesen wie uns ist die Freiheit gegeben, über alles hinaus zu gehen, was wir uns vorgenommen, vorgestellt oder vorgemacht haben. Nur wir können die Grenzen, die wir uns nach Belieben ziehen, auch nach Belieben überschreiten. Moralisch gesprochen, sind wir imstande unser Leben zu ändern. Wahrnehmungstheoretisch gesprochen, sind wir fähig unsere Augen zu öffnen. Theologisch gesprochen, sind wir zum Sehen Gottes begabt.

„Intelligente“ Systeme dagegen operieren sozusagen immer innerhalb des Raums, den Ludwig Wittgenstein im Tractatus logico philosophicus für das Denken aufgespannt hat. Dieser Raum ist zwar in dem Sinne grenzenlos, als kein denkendes Wesen ihm eine Grenze ziehen kann („denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir beide Seiten dieser Grenze denken können; wir müssten also denken können, was sich nicht denken lässt“), aber er besitzt die Struktur eines Sprachraums und findet in der Beschränktheit der Sprachlogik eben doch eine Grenze. „Was jenseits dieser Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein“, sagte Wittgenstein. Entsprechendes gilt für alle denkbaren KI-Systeme: Was jenseits ihres Operationsfelds liegt, ist Unsinn. Weniger noch, es existiert nicht.

Mit der Mustererkennung der „intelligenten“ Systeme hat es darum folgende Bewandtnis: Auf der Basis gespeicherter Datenkonfigurationen (interne Muster) sowie programmierter Auswahlkriterien und Verarbeitungsmethoden (Algorithmen) vermag das System im Bereich der sensorisch erfassten Außenwelt zwar bestimmte Phänomene abzusondern, deren Konfigurationen mit den internen Mustern entweder vollkommen oder teilweise übereinstimmen. Das Besondere an diesen Phänomenen ist aber, dass sie nur Muster sind und nichts darüber hinaus. Von der Fingerkuppe, den das Türöffnungssystem abtastet, wird lediglich das Liniengeflecht erfasst, das wir Fingerabdruck nennen. Was einen menschlichen Betrachter darüber hinaus beeindruckt: der Dreck unter den Fingernägeln, die gelbliche Hornhaut, der Charakter oder die Symbolik der „Fingerspitze“ – ist für das künstliche System nichts. Der Sinn des Arbeitsstücks ist für den Fertigungsroboter nichts. Der Mensch ist für den Pflegeroboter nichts.

Religion

Computersysteme sind in der Welt, aber die Welt ist nicht in ihnen. Um zu erklären, was solche Maschinen zu ihren erstaunlichen Leistungen befähigt, muss man sich näher anschauen, was denn überhaupt in ihnen ist. Man muss den Sprachraum untersuchen, der sie ausmacht. Nun ist der Sprachraum eines Computers bestimmt durch Programme. Programme aber sind nichts anderes als Folgen von Algorithmen, und ein Algorithmus ist bekanntlich ein Verfahren zur schrittweisen Lösung von Rechenaufgaben. Dabei werden Zahlenwerte nacheinander einer Rückkopplungsschleife zugeführt, in der geprüft wird, ob der Wert eine bestimmte, für die Lösung relevante Bedingung erfüllt oder nicht. Am Ende der Prozedur sind alle Werte entweder ausgeschieden oder nicht, wobei die nicht ausgeschiedenen Werte die Lösung darstellen (meistens setzt sich ein Algorithmus aus mehreren solcher einfachen Module zusammen, vgl. z.B. das Lösungsverfahren der „schriftlichen Division“, das wir in der Schule gelernt haben). Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Wenn wir das Problem, eine Stecknadel im Heuhaufen zu finden, algorithmisch lösen müssten, würden wir ganz stur einen Halm nach dem anderen zur Hand nehmen und daraufhin prüfen, ob es sich um einen metallischen Gegenstand handelt oder nicht – eine Prozedur, die unter Umständen sehr langwierig ist, dafür aber garantiert zum Erfolg führt.

Algorithmen sind sehr vielseitig einsetzbar, weil sich zahlreiche Probleme des Alltags und der Wissenschaft in Teilprobleme zerlegen lassen, die stur und schematisch – also letztlich rechnerisch – gelöst werden können. Dabei wächst das Anwendungsspektrum naturgemäß in dem Maße, wie sich Speicherkapazität und Rechengeschwindigkeit steigern. Bekanntlich ist der Fortschritt in beiden Bereichen gewaltig. Wären Grashalme Zahlen, würde ein moderner Computer die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen sogar dann schneller finden als ein Mensch, wenn dieser sie per Zufall umgehend entdeckte. Zweifellos besitzen Rechenmaschinen also übermenschliche Fähigkeiten. Und weil das Rechnen bei den Menschen seit eh und je in hohem Ansehen steht, bewundern viele Zeitgenossen die Rechenkünste moderner Maschinen so sehr, dass sie Zeichen für eine generelle Überlegenheit erblicken wollen, wo tatsächlich immer nur spezielle Leistungen erbracht werden. Diese Zeitgenossen scheinen es als einzige dem Menschen verbleibende Aufgabe anzusehen, einer halluzinierten Supermaschine zuzuarbeiten. Sie begreifen sich nurmehr als Datenzuträger (Konsumenten), Entwicklungsgehilfen (Ingenieure) oder Propagandisten (Internetintellektuelle) der Maschine. Sie haben sich aufgegeben. Sie machen mit Stecknadeln herum und vergessen die im Heuhaufen versteckte Geliebte.

Übrigens. An dieser Stelle der Darstellung eine „Geliebte“ ins Spiel zu bringen, hat sich ergeben. Die Pointe war nicht geplant, nicht konstruiert. Dass sie mir einfallen würde, war nicht vorherzusehen. Andererseits muss ich zugeben, dass die Idee des Mädchens nicht von ungefähr kommt, denn sie lag spätestens seit der Erfindung des Heuhaufen-Beispiels in der Luft: Wie die Stecknadel, die man zu suchen hat, gehört auch das Mädchen, das man zu finden hofft, zum semantischen Feld des „Heuhaufens“. Dieses Mädchen erschien mir in dem Moment, als ich dabei war, den uns allen bekannten Typus des bis zur Selbstverleugnung konsequenten Rationalisten an den Rand seines eigenen Abgrunds zu führen. Ich hätte ihn dort stehen lassen können. Ich hätte ihn auch hinunterschubsen können. Das wäre freilich weder für ihn noch für den Leser ein schönes Ende gewesen. Das Mädchen lässt das Ende leuchten. Und zwar nicht allein deshalb, weil ein Mädchen eben schön und eine Stecknadel nur nützlich wäre. Sondern weil die überraschende Hinwendung zu etwas ganz anderem schlaglichtartig verdeutlicht, was uns als Menschen auszeichnet. Es ist die durch die Wahrnehmung des Ganzen ermöglichte Fähigkeit zum urplötzlichen Perspektivenwechsel und Sinneswandel. Wir können Pointen setzen – und zwar deshalb, weil wir bei der Gestaltung nicht in Programmschleifen gefangen sind, sondern uns sozusagen im Freien und unter dem beständigen Einfluss eines wetterwendischen Ganzen auf ein unbekanntes Ziel zubewegen (und mit dem Ganzen ist hier nicht etwa nur der Heuhaufen gemeint, sondern natürlich die Idee von der im Eindruck anwesenden Welt).

Da Computersysteme es mit operationalisierbaren Problemen zu tun haben, kommen sie mit Algorithmen zum Ziel. Da wir es als Gestalter mit Ideen zu tun haben, die sich überhaupt erst im Zuge ihrer Lösung konkretisieren, können wir nicht algorithmisch vorgehen. Der Unterschied der Vorgehensweisen zeigt sich in den verschiedenartigen Instanzen der sensorisch kontrollierten Rückkopplung. Während die Wechselwirkung beim Algorithmus zwischen Elementen und Programmschleifen erfolgt, so sind es bei der Gestaltung Teil und Ganzes, die sich wechselseitig modifizieren. Ein Ganzes willkürlich entwerfen und realisieren zu können, ist dem Menschen eigentümlich.

Die Ingenieure der „Künstlichen Intelligenz“ sprechen lieber von Emergenz oder Übersummativität als vom Ganzen. Aber was bedeuten diese Begriffe? Kaschieren sie nicht lediglich die peinliche Tatsache, dass den Leuten bislang kaum etwas anderes eingefallen ist als Elemente aufzuaddieren? Beruhen die Erfolge der KI-Forschung auf etwas anderem als der simplen Tatsache, dass sich heute Summen von erstaunlichem Umfang in erstaunlicher Geschwindigkeit bilden lassen? Ich fürchte, KI-Forscher hängen tatsächlich nach wie vor dem Glauben an, dass Intelligenz irgendwie aus elementaren Verknüpfungen resultiert. Die Wechselwirkung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, für den Holisten eine Grundtatsache, lässt sich gemäß dieser Theorie auflösen in programmgesteuerte Elementarvorgänge. Muster, Schemata, Strukturen und Organismen erwachsen aus algorithmischen Prozeduren. Mit anderen Worten: Die Geheimnisse der Kreativität mögen zwar noch nicht ganz gelüftet sein, aber wir können davon ausgehen, dass wir so ähnlich wie ein Roboter ticken. Und so warten die Gläubigen auf den Tag der „Singularität“ und warten und warten und warten …

Um das immer wieder Durchscheinende einmal ganz offenzulegen: Das nur dem Menschen eigentümliche geistige Vermögen, das ihm die freie Setzung des Rahmens und die kreative Gestaltung seines Inhalts erlaubt, bedarf einer Ergänzung, um real wirksam zu werden. Innere Freiheit bedarf des offenen Raums. Möglichkeit setzt Wirklichkeit voraus. Gestaltung setzt Wahrnehmung voraus. Ohne den Eindruck, in dem die Welt anwesend ist, hätten sich Kreativität und damit Intelligenz nie entwickeln können.

Der erste Mensch war die Kreatur, die das Mögliche im Wirklichen entdeckte. Der letzte Mensch wird der Kreative sein, der das Wirkliche erschöpft, indem er alles möglich macht. Er begibt sich des Anderen der Freiheit. Er schließt das Tor. Unbeeindruckt von der Welt bewohnt er sein Haus, das ihm die Welt bedeutet.

Wenn wir das nicht wollen, dürfen wir die Verbindung mit der Natur als dem größten Ganzen nicht abreißen lassen. Wir bedürfen der Religion. Wir bedürfen ihrer zur Rettung des Wirklichen und zur Bewahrung der Freiheit, die darin liegt, eine Welt im Auge zu behalten, die nicht von uns und nicht für uns, sondern für sich selbst gemacht ist.  

Der Spatz schweigt dazu. Sein Raum ist offen wie der des ersten Menschen. Doch obwohl er das Ganze vor Augen hat, begnügt er sich stets mit seinem Teil. Für ihn fallen Möglichkeit und Wirklichkeit zusammen. Er hat keine Ideen, dafür kennt er seinen Platz. Vielleicht ist das Religion: seinen Platz zu kennen – und einzunehmen.

Porno

Uns Ältere, die wir eine Welt ohne Computer, Mobilfunk und Internet kennen, muss der offenbar nicht aufzuhaltende Siegeszug des Algorithmus irritieren. Meistens geben wir es freilich nicht zu. Denn wer heute Unsicherheit zeigt, läuft Gefahr, als zurückgeblieben, dement oder schlimmer noch: als rückwärts gewandt angesehen zu werden. Weil man nicht als Depp dastehen oder abtreten möchte, macht man eben gute Miene zum bedenklichen Spiel – oder setzt sich gar als Godfather des Fortschritts in Szene, wie all die ältlichen Progressisten in gehobenen Positionen, die das Machen vergöttern, obwohl sie längst nicht mehr wissen, was sie tun.

Besser, wir wären ehrlich. Irritation heißt ja auch nicht, das Neue rundheraus abzulehnen, nur weil es eben neu und ungewohnt ist. Irritation heißt, eine Unwucht zu spüren, die sich an Teilen bemerkbar macht, aber das Ganze aus der Bahn zu werfen droht. Geben wir der Irritation also Raum!

Was jedes Kind weiß oder doch spürt: Die technisch hergestellte Aufhebung der raumzeitlichen Distanzen, die wir als Fortschritt begrüßen, weil sie das Alltagsleben in vielerlei Hinsicht erleichtert, verbessert das Leben keineswegs in jeder Hinsicht. Zu den ambivalenten Segnungen kommen die handfesten Probleme, die uns die technologische Revolution beschert. Von Cyberkriminalität und Drohnenkrieg, von „digitalem Maoismus“ und „Sirenenservern“, von ökonomischen und sozialen Verwerfungen soll hier jedoch nicht die Rede sein. Hinter diesen neuartigen Problemen verbergen sich auch uralte Machtfragen, die wir wahrscheinlich auf die übliche Art lösen werden, nämlich durch Machtverschiebung. Zuvor nehmen wir uns dieser Probleme nicht zuletzt deswegen mit größtem Engagement an, weil sie in gewisser Weise unser ganzer Stolz sind. Allein ihr Umfang und ihre Verschlungenheit scheinen zu zeigen, wie weit wir es als Menschen gebracht haben. Der Subtext beinahe jeder Einlassung zum Thema Digitalismus lautet deshalb: Es ging zwar schon immer ums Ganze, aber um wieviel größer ist dieses Ganze doch in unseren Zeiten! Das genau ist es, was ich bezweifele. Das Ganze scheint zu schwinden. Wir haben es mit einer künstlich verkleinerten Welt zu tun.

Einige Beispiele. Wer den Blick auf die Karte des Navis richtet, verliert die Landschaft aus den Augen. Wer am Computer Krieg führt, sieht den Krieg als Computerspiel an. Wer dem Körper dauernd funktionelle Optima abpresst, dem schenkt er keine Freude mehr. Wer ausschließlich komprimierte Musik hört, wird am Ende allein durch ihren Druck bewegt. Kurz: Wer die Welt vor allem durch ein Display wahrnimmt, dem bedeutet das Display schließlich die Welt. Wir sind in dieser Kunstwelt gefangen. Wir leben in ihr wie Straftäter in einem Gefängnis. Versorgt mit allem Nötigen, verlassen von allen guten Geistern, klein und gemein gemacht. 

Ist es nicht so? Weil sich uns das Abstrakte immer anschaulicher darbietet, neigen wir immer mehr dazu, es für das Konkrete zu nehmen. Infolgedessen erscheint uns alles Mögliche so fassbar und real wie einst das Wirkliche, das uns nurmehr in dem Maße interessiert, als es uns unmittelbar zu erregen vermag (Traumstände, New York, das Klima, Putin, Tsunamis, Supermodels, Nobelpreisträger, Islamisten, mein Haus, mein Auto, mein Ego). Die Wirklichkeit behauptet sich zwar als notwendige Bedingung des Möglichen, aber sie tut nichts mehr zur Sache. Von dem Körper, der auch weiterhin mit im Spiel ist, zählen nur noch die geilen Partien. Die Welt ist im Eindruck anwesend – aber wir betrachten sie inzwischen wie einen Porno.

Ein Gedanke zu „Teil und Ganzes in Wahrnehmung und Gestaltung

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