Uhrenvergleich

Wenn ich wissen will, wie spät es ist und auf mein Smartphone schaue, sagen mir ein paar Ziffern schon alles. Für das Erfassen der Uhrzeit jedenfalls spielt das Display, auf dem die Ziffern erscheinen, nicht die geringste Rolle. Es handelt sich dabei lediglich um einen materiellen Träger, den ich ästhetisch bewerten oder technisch untersuchen kann, aber nicht beachten muss, wenn ich einfach nur die Uhrzeit ablesen will. Ganz anders liegt der Fall bei einer konventionellen Zeigeruhr, egal ob in ihr ein mechanisches Uhrwerk tickt oder ein elektronischer Taktgeber schwingt, ob sich die Zeiger als materielle Körper vom Untergrund abheben oder ob ich auf eine digitale Simulation blicke.

Bei diesen Uhren ist die Fläche, auf der die Zeiger kreisen, ein Bedeutungsträger. Zwar kommt es nicht auf die Materialität dieser Oberfläche an; auch muss sie keineswegs eine Kreisscheibe sein und nach Stunden, Minuten oder Sekunden unterteilt sein, wie es bei Ziffernblättern üblich ist. Jedoch setzt die richtige Deutung der Uhrzeigerkonstellation die Kenntnis einer Ziffernblattstruktur und ihre korrekte Projektion auf den Untergrund voraus. Zum Beispiel muss ich den imaginierten Stundenkreis so positionieren, dass die 12 »oben« steht.

Doch damit nicht genug. Weil die Zeigerkonstellation auf einem konventionellen 12-Stunden-Zifferblatt stets zwei Deutungen zulässt und mir beispielsweise nicht verrät, ob es bei einer 3-Uhr-Stellung drei Uhr nachts oder drei Uhr nachmittags ist, muss ich die Tageszeit eigentlich schon vorher kennen, um das grafische Bild richtig interpretieren zu können. Das heißt: Ich muss wach in die Welt schauen, muss mich meiner Eingebundenheit in den kosmischen Tag-Nacht-Rhythmus vergewissern, um die richtige Wahl zu treffen. Weil ich bereits im Bilde sein muss, um meine Position darin zu erkennen, ergibt sich die Uhrzeit also nicht schon aus dem Zusammenspiel von beweglichen Figuren auf einem strukturierten und kalibrierten Grund. Vielmehr sind die natürliche Welt und meine Stellung in ihr mit zu berücksichtigen, wenn ich aus dem komplexen Schaubild schlau werden will.  

In punkto Welthaltigkeit und Beziehungswissen stellt die Zahlenuhr so gut wie keine Anforderungen. Dafür sind kulturtechnische Kompetenzen gefragt. Während bei der Zeigeruhr grafische Bildzeichen erkannt werden wollen, muss man bei der Zahlenuhr numerische Schriftzeichen lesen können. Lineares Lesen versus komplexe Gestaltwahrnehmung: Diesen Unterschieden entsprechen auch die praktischen Vor- und Nachteile der beiden Darstellungstypen. Die Ziffernfolge der Zahlenuhr zeigt die Uhrzeit exakt an, allerdings beschränkt sich die Angabe auf den isolierten Zeitpunkt eines jeweiligen »Jetzt«. Dagegen vermittelt das grafische Bild der Zeigeruhr in der Regel nur ein ungefähres Wissen um die aktuelle Uhrzeit, dafür verrät es eine Menge über die vor und nach dem »Jetzt« liegenden Zeiträume.

Ich sehe, wie lange ein zurückliegendes Ereignis gedauert hat oder wann das nächste beginnt, wie schnell die Zeit verflogen ist oder wie langsam sie dahinkriecht, ob ich mich beeilen muss oder trödeln kann, wenn ich irgendwo pünktlich zur Stelle sein will.

Zur Orientierung in Zeit und Raum eignen sich Zeigeruhren mithin besser als Zahlenuhren. Bei jenen reicht ein Blick, um im Bilde zu sein; bei diesen muss ich rechnen, um die Verhältnisse zu klären. Hier rekonstruiere ich lineare Prozessverläufe, dort sehe ich mich in einen kosmischen Zusammenhang gestellt.

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Alles in allem repräsentieren die beiden Zeitmesser-Typen damit nicht nur unterschiedliche Prinzipien der Wissensvermittlung, vielmehr stehen sie für komplementäre Geisteshaltungen, Denkstile, ja, Existenzweisen. Schriftlichkeit steht gegen Bildlichkeit, Linearität gegen Komplexität, Information gegen Bedeutung, rechnerische Exaktheit gegen intuitive Gewissheit, Kalkül gegen Erfahrung, logozentrische Rationalität gegen gesunden Menschenverstand, Wissenschaft gegen Kennerschaft, weltloses Funktionieren gegen praxisorientiertes In-der-Welt-Sein, binäres Entweder-Oder-Denken gegen polares Sowohl-als-auch-Denken, Identitifizierung mit konstruierten Ordnungen gegen Eingebundenheit in naturgeschichtliche Zusammenhänge. Merkwürdigerweise scheinen wir seit dem Aufkommen der Digitaluhren in den 1970er Jahren mehr und mehr so zu ticken wie diese Geräte.

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Aufgrund ihrer Vorzüge ist die Zeigeruhr weiterhin ein Erfolgsmodell. Sogar bei vielen digitalen Zeitmess-Anwendungen bestimmen heute wieder Zeiger und Ziffernblätter das Bild. Bekanntlich gelten ikonische Zeichen ohnehin seit langem als das Nonplusultra der digitalen Kommunikation. Seit dem Aufkommen der grafischen Benutzeroberfläche in den 1980er Jahren sehen wir zum Beispiel die Home-Bildschirme unserer Computer nicht mehr als Anzeigetafeln an, sondern als Schreibtische oder Pinnwände. Wir arbeiten nicht mehr am Schnürchen linearer Befehlscode-Ketten, sondern in Räumen mit zahllosen Fenstern, die auf unterschiedlichste Betätigungsfelder hinausgehen.

Der Bilderreichtum der digitalen Sphäre darf uns indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die vielsagenden Bilder von einsinnigen Nummerncodes erzeugt werden. Um Programme mit derartigen Codes zu verfassen, braucht es keine welthaltigen Individuen. Auch Fachidioten, auch Maschinen kriegen so etwas auf die Reihe. Dass auf diese Weise phantastische Welten entstehen können, wissen wir zur Genüge. Das Dumme daran ist nur, dass der Aufenthalt in diesen Welten uns auf die Dauer selbst zu Fachidioten oder Maschinen macht. Und zwar einfach deshalb, weil es nicht die Erde ist, auf der wir dort wandeln, und nicht der freie Himmel, an dessen Gestirnen wir uns dort orientieren. In ihrer immateriellen Künstlichkeit gleichen diese Welten den Leuchtziffern der Zahlenuhren, die uns auch dann noch alles sagen, wenn wir in finsteren Kerkern vor uns hin vegetieren. Willkommen in Platons Höhle! 

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