II. Von Wahrnehmungsbegriffen

Im landläufigen Sinne ist Wahrnehmung der »Prozess und das Ergebnis der Informationsgewinnung und -verarbeitung von Reizen der Umwelt«. Genauer gesagt geht es um das »Filtern und Zusammenführen von Teil-Informationen zu subjektiv sinnvollen Gesamteindrücken«. Die Eindrücke werden »laufend mit den als innere Vorstellungswelt gespeicherten Konstruken oder Schemata abgeglichen.« Diese aus dem entsprechenden Wikipedia-Artikel entnommene Definition stellt den Eindruck nicht an den Anfang des Wahrnehmungsprozesses, sondern an sein Ende. Wahrnehmung wird als ein Geschehen aufgefasst, dass induktiv von Elementen (Reize, Informationen) über Zwischenstufen zum Ganzen (Gesamteindruck) fortschreitet. Abgesehen von diesen meiner Ansicht nach einseitigen Einschätzungen, führt die Definition jedoch einige aussagekräftige Begrifflichkeiten ein. Die »innere Vorstellungswelt« mit  ihren »Konstrukten« und »Schemata«: Was hat es damit auf sich? Zwei Beispiele. 

Der Charakter scheint im Gesicht auf

Gesichter sind Ganzheiten, die wir offenbar augenblicklich erfassen. Das heißt, wir müssen das Mienenspiel des Gegenübers nicht »lesend« abtasten, um es deuten zu können. Statt dessen vermittelt uns die Wahrnehmung einen Gesamteindruck, so dass wir den physiognomischen Charakter des Gegenübers ohne Umschweife erkennen. Grobschlächtig oder fein geschnitten, sympathisch oder abstoßend, stumpf, interessant, geheimnisvoll: der Charakter scheint im Gesicht auf – und steht dem Gegenüber nicht »ins Gesicht geschrieben«. Noch einmal: Wir müssen beim Wahrnehmen nicht bewusst »denken«, also irgendwelche begrifflichen Unterscheidungen treffen oder gar bestimmte Merkmale eigens benennen (wenn ich von einem »zarten« Gesicht spreche, verfälsche ich den visuell wahrgenommenen Gesamteindruck eigentlich schon, weil ich ihn erstens auf ein einziges Merkmal reduziere und zweitens unterschlage, dass »Zartheit« selbst unendlich viele Ausdrucksformen annehmen kann).

Allerdings entsteht solch ein umfassender Gesamteindruck nicht ohne das Zutun des Betrachters. An seinem Zustandekommen müssen die Wahrnehmungserfahrungen, die wir im Laufe des Lebens gemacht und verinnnerlicht haben, in irgendeiner Weise beteiligt sein. Wenn wir als Kinder europäischer Eltern von Geburt an vor allem in europäische Gesichter geblickt haben, so kennen wir als Erwachsene unglaublich viele derartige Gesichter. Diese Physiognomien müssen sich uns irgendwie als Muster eingeprägt haben, sonst könnten wir zwar vielleicht bekannte Gesichter wiedererkennen, aber keine typischen Gesichtsformen erkennen. Bei der Wahrnehmung eines neuen Gesichts greifen wir in irgend einer Weise auf diesen Erinnerungsschatz der »inneren Vorstellungswelt« zurück.

Wenn Gesichter uns fremd sind, wenn sie also in vielerlei Hinsicht von den Mustern abweichen, die wir im Zuge unserer persönlichen Erfahrung verinnerlicht haben, nehmen wir sie zwar auch als Ganzes wahr, erkennen ihren Charakter jedoch längst nicht so umfassend und genau, wie das bei vertrauten Gesichtern der Fall ist. Die Gesichter von asiatischen Menschen etwa erscheinen uns Europäern oft merkwürdig unspezifisch, ähnlich und nichtssagend.

Musikalische Muster

Bei der Musik ist es ähnlich. Schon ihre Wirkung  – und nicht erst ihr »Verständnis« – setzt das Vorhandensein internalisierter Muster voraus. Wem die Formen traditioneller indischer Ragas oder auch »Neuer Musik« nicht vertraut sind, kann mit diesen Klängen in der Regel sehr wenig anfangen. Wir nehmen das Ganze wahr, registrieren aber lediglich gewisse Schwankungen in Tempo, Lautstärke, Klangdichte und Klangfärbung, so dass wir allenfalls einen atmosphärischen Eindruck gewinnen. Fremdartige Musik kann also zwar durchaus Stimmungen erzeugen, aber den Emotionen fehlt es an Tiefe. Diese Tiefenwirkung ist die Folge des Abgleichs von Höreindrücken mit internalisierten Mustern. Da die meisten von uns die Muster der europäischen Funktionsharmonik bereits in der Wiege kennen und lieben gelernt haben, sind sie uns in Fleisch und Blut übergegangen.

Wahrnehmungsbegriffe

Wörter wie »Konstrukt« oder »Schema« verweisen in diesem Zusammenhang wohl auf identisch wiederkehrende Routinen im Ablauf neuronaler Ereignisse. Egal ob man solche Muster als gestalthafte Figuren oder digitale Codes deutet: Aufgrund der Tatsache, dass sie nicht-identische Gegebenheiten in identische Formen zwingen, repräsentieren sie in jedem Fall so etwas wie elementare Begriffe. Allerdings unterscheiden sich diese Wahrnehmungsbegriffe in einigen Punkten wesentlich von den meist sprachlich fixierten Allgemeinbegriffen. Diese lassen sich beliebig aus Kontexten herauslösen, jene wirken stets im Gesamtzusammenhang aller inneren und äußeren Wahrnehmungsereignisse. Diese sind konventionell, jene sind Resultat der Geschichte individueller Eindrücke und daher persönlich. Beide heben das Gleiche im Verschiedenen hervor, aber während der Allgemeinbegriff das abstrakte Ergebnis der Subsumierung festhält, bleibt der Wahrnehmungsbegriff, der an die ihn erst hervorrufende konkrete Situation gebunden ist, offen für den Unterschied.

In der (sprach-)begrifflichen Erkenntnis degeneriert das Objekt zum bloßen Beispiel für ein intellektuelles Konstrukt. In der Wahrnehmung dagegen figuriert das Objekt als das Fremde, dem das Subjekt das Eigene aufprägt, um des Anderen gewahr zu werden.

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