Was ist modern? Vier Versuche.

Wer sich mit Zeitgenossen verständigen will, muss ihre Sprache sprechen. In dieser Hinsicht sind die folgenden Überlegungen modern, wie ich hoffe. Modernität als Ideologie und Haltung erscheint mir jedoch seit langem fragwürdig. Zwei Aufsätze, einen Dialog  und ein Treatment später hat sich an dieser Einstellung nichts geändert.

Gehorchen.

Modern ist das jeweils Neue. Früher einmal waren Schreibmaschinen modern, seit dem Aufkommen von PCs sind es Textverarbeitungsprogramme. Die heutige Fertigungsindustrie verfügt über modernste Produktionsmittel, doch am Horizont dräut schon der noch modernere 3D-Druck. Innovationen veralten schnell. Was der Anwender einer Technik als hypermodern erachten mag, ist für den idealtypischen Ingenieur bereits Schnee von gestern, weil er immer schon am Kommenden arbeitet. In der Kunst liegt der Fall ähnlich. Auch der idealtypische Künstler arbeitet stets an der Grenze des Noch-nicht-Sagbaren oder Noch-nicht-Machbaren. Hat er sein Rätsel schließlich gelöst, steht er schon wieder vor dem nächsten. Nun gibt es diese idealtypischen Ingenieure und Künstler zwar nicht in Wirklichkeit, aber gesellschaftliche Instanzen, die aus der realen Kunst- und Technikproduktion das jeweils nächste Neue herausfiltern, gibt es durchaus. Man denke an den Kunstbetrieb mit seinen Galeristen, Kuratoren und Sammlern, man denke an das Patentwesen, an die Fachkritik und an die vielen institutionellen Filter der Wirtschaft und des Wissenschaftsbetriebs.

Die entscheidenden Filterinstanzen sind allerdings die Märkte, weil erst sie bestimmen, ob ein neues Artefakt als bloße Kuriosität in die Geschichte eingeht oder als nachgefragtes Produkt die Welt verändert. Letzten Endes ist das Moderne das Gängige – die Innovation, für die sich eine hinreichend große Menge entscheidet.

Ist die Entscheidung frei? Marktliberale zweifeln nicht daran. Für sie ist Modernisierung ein gesellschaftlicher Erneuerungsprozess, der durch die demokratische Wahl freier Konsumenten legitimiert ist. Natürlich liegen sie mit dieser Einschätzung falsch, weil sie die andere Hälfte der Wahrheit verschweigen. Denn die „unsichtbare Hand“, so es sie gibt, lenkt das Marktgeschehen ja nicht nur vermöge der Zügel, die „der Konsument“ führt, sondern auch unter dem Einsatz der Marketing-Peitsche, die die Vertreter der Angebotsseite schwingen. Dabei bemühen sich die Kutscher, also die Designer, Ingenieure und Betriebswirtschaftler, die Werber, Lobbyisten und PR-Strategen bloß um das Machen konkreter Märkte. Die Wirtschaftslenker im Fond des Vehikels, in deren Auftrag sie handeln, verfolgen darüber hinaus allgemeinere Ziele wie etwa die Gestaltung und Stabilisierung einer marktkonformen Kultur (dies besorgen Meinungsmacher und Kunstschaffende zum Beispiel mittels „großer“ Erzählungen wie dem populären Mythos vom permanenten Wandel aller Verhältnisse, der jede ökonomisch motivierte Umwälzung als naturnotwendig erscheinen lässt).

Das Ergebnis dieser Umtriebigkeiten sind die ökonomistischen Demokratien, in denen wir leben. In ihnen ist der Markt ein Herrschaftssystem, in dem es darum geht, dem einzelnen Bürger Angebote zu machen, die er nicht ausschlagen kann. Dass die konsumistische Erpressung vollkommen zwanglos erscheint, liegt daran, dass sie ohne autoritäres Machtgehabe auskommt. Der Druck kommt nicht von oben, er kommt von seiten der Marktkräfte und macht sich allenfalls als fortwährender Zwang zur Neuorientierung bemerkbar. Dass sich so gut wie niemand aus dem Gedränge befreien mag, liegt natürlich vor allem an der blendenden Überfülle des Warenangebots. Theoretisch gewährt der Markt alles – faktisch gewährt er jedoch nur das Gewollte, und es fragt sich, was der Einzelne wollen kann. Er lenkt den Markt ja nicht, sondern driftet in ihm. Und weil Masse und Marketing die Richtung und das Tempo der Drift bestimmen, wird das Individuum in der Regel genau das wollen, was sich ihm bietet. Für dich und mich ist das Moderne das Gebotene.

Schreiten.

„Modern“ ist weniger ein Begriff als ein Image. Das Selbstbild des fortschrittlichen, die Ideale der Aufklärung in die Zukunft tragenden Menschen – was zeigt es? Ich stelle mir einen Videoclip nach der Art des berühmten Wahlwerbespots vor, den Jacques Séguela 1988 für François Mitterrand gestaltet hat. Séguelas gut einminütiger Streifen besteht aus einem mit treibender Perkussion unterlegten Zusammenschnitt unzähliger Bilder aus der französischen Geschichte; der Reigen spannt sich vom Sturm auf die Bastille bis zu Mitterrand und kulminiert in dem Slogan „La France Unie“. Mein Clip würde einen jugendlichen Helden in den Mittelpunkt stellen, der durch die neuere europäische Geschichte schreitet.

Zu Anfang sehen wir ihn als Gast Friedrichs des Großen auf der sonnigen Terrasse von Schloss Sanssouci. Er gehört zur philosophischen Tafelrunde des Preußenkönigs, gestikuliert wild und stürzt endlich (nach drei Sekunden) den Tisch um. Er reißt sich die Rokoko-Perücke vom Kopf und schreitet voran. An der Spitze einer Gruppe von Abgeordneten schreitet er durch eine Gasse jubelnder Citoyens. In einem Ballsaal erhebt er inmitten einer Menge begeisterter Honoratioren die Hand zum Schwur und schreitet sogleich voran. Vor den Tuillerien zieht er die barbusige Marianne aus dem Matsch und schreitet mit ihr voran. Er wirft sich in die Schlacht. Er schleudert sein Gewehr fort. Er streut Blumen in die Menge. Er springt von einer Barrikade und schreitet voran. Er schreitet durch eine Fabrikhalle, durch ein Laboratorium, durch einen Eisenbahnwaggon. Mit Arbeitern demonstriert er für den Achtstundentag, mit Frauen für die Gleichberechtigung, mit Pazifisten gegen den Krieg. Als Bolschewik stürmt er den Winterpalast, als Rotfrontkämpfer vermöbelt er SA-Leute. An der Spitze einer Gruppe von Parlamentariern schreitet er stolz durch ein Spalier von Braunhemden. Er verteilt Flugblätter, versorgt eine im Keller versteckte Familie mit Proviant, zielt aus einem Fensterloch auf einen SS-Offizier. Als GI stürmt er Omaha Beach. Lächelnd steigt er aus einem Jeep und drückt Kaugummis in ausgestreckte Kinderhände. Er tanzt Rock’n’Roll und tanzt Twist. Als Demonstrant schwenkt er die rote Fahne, die Palästinenserfahne, die schwarze Fahne, die Regenbogenfahne. Er tanzt als Hippie, als Punk, als Techno-Raver. Schließlich sehen wir ihn als Nerd in einem dämmrigen Bunker. Er hockt an einem Schreibtisch und starrt auf einen Bildschirm. Doch schon im nächsten Moment kippt er den Tisch um und steigt darüber. Lässig lässt er das Smartphone in die Brusttasche des Sakkos gleiten und schreitet in den sonnigen Tag.

Die Musik ist von Fehlfarben, der Claim lautet „Es geht voran“. Enthusiasmus, Zuversicht, Jugend, Engagement für den Fortschritt: Was will man mehr! Der Clip bringt es auf den Punkt – übrigens nicht zuletzt aufgrund einer rigorosen Schnitttechnik, der naturgemäß ein Großteil des gefilmten Materials zum Opfer gefallen ist. Eigentlich erstaunlich, was das Publikum nicht zu sehen bekommt. Hier ein paar Schnipsel:

Der Held lässt eine royalistische Bauernfamilie über die Klinge springen, er massakriert eine Schar eidverweigernder Priester, er führt ganze Hundertschaften von Bürgern zur Guillotine. Er hetzt als Jakobiner gegen Girondisten, als Thermidorianer gegen Jakobiner und als Bonapartist gegen das Langschläfertum. In allen Kriegen ist er derjenige, der die Soldaten in die Schlacht hetzt – sei es im Namen der Freiheit, der Nation, der Klasse oder der Rasse. Er ist der Bankier, vor dem die Welt zu Kreuze kriecht. Der Industrielle, der auf dem Kanonenrohr reitet. Der Ingenieur, der die Uhr zum Rasen bringt. Er vergiftet die Atmosphäre. Er verschandelt die Städte und verwüstet die Dörfer. Er rekrutiert Arbeiterheere und vernichtet sie durch Arbeit. Er ist der Tschekist, der Erschießungsbefehle brüllt. Der große Dichter, der dem großen Stalin huldigt. Der Bomberpilot, der Dresden in Schutt und Asche legt. Der SS-Mann, der anständig geblieben ist. Der Rotgardist, der Millionen von Bauern krepieren lässt. Der Philanthrop, der Juden liebt und lediglich den Zionismus samt Anhängern ausmerzen will. Der Sozialist, der Arbeiter als Proleten verachtet. Er ist der Leftie, der gegen die Familie hetzt, deren Zusammenhalt ihn ängstigt. Gegen das Volk, sobald es sich gegen die Verrechtlichung jeder Lebensbekundung wehrt. Gegen Männlichkeit und Weiblichkeit und was sich sonst dem Begriff der Gleichheit nicht fügen will. Überhaupt gegen alles, was sich behauptet gegen einen Fortschritt, der mit der Menschlichkeit am Ende auch den Menschen überwinden soll.

Funktionieren.

Der jugendliche Held: Die Moderne ist nicht der Kitsch, den du daraus machst. Sie ist sich ihrer Dialektik bewusst und umgreift damit ihre eigenen Widerspüche. Es geht ihr beispielsweise nicht allein um die hehre Theorie des Marxismus, sondern auch um dessen verpfuschte Praxis. Nicht allein um demokratische Ansprüche, sondern auch um ihre Realisierung. Modern ist das Geistige, sofern es sich verwirklicht. Der Begriff zielt auf das Ganze des historischen Prozesses.

Der Reaktionär: Entschuldige, aber wann immer ein Modernist das Ganze beschwört, habe ich einen Kaufmann vor Augen, der auf sein Hauptbuch verweist, in dem zwar alles Geschehen verzeichnet ist, aber am Ende nur die Ausgaben und Einnahmen zählen. Als sei jedes reale Ereignis mit einem Plus oder einem Minus ausgezeichnet. Als ginge es in der Geschichte um Gewinnmaximierung. Als sei Dialektik der Prozess, der Soll in Haben verwandelt. In Wirklichkeit ist kein einziges Problem gelöst, ist überhaupt gar nichts tröstlich „aufgehoben“. Alle Wunden, die die Moderne geschlagen hat, sind offen. Alles schmerzt. Der Tod Gottes. Das Absterben der natürlichen Welt. Der ideologisch begründete Massenmord. Der technifizierte Massenmord. Der wirtschaftliche Kannibalismus des Westens. Das Elend des verwalteten und bespielten Menschen. Die Antiquiertheit des Menschen. Wer das Ganze mitfühlend betrachtet, statt es nur gedanklich zu verbuchen, kann nicht auf die Errungenschaften der Maschinenzeit verweisen und vor ihren Katastrophen die Augen verschließen. Es reicht nicht, das grundlegend Falsche unter dem harmlosen Begriff ,Antagonismen‘ zu verstecken.

Der jugendliche Held: Die Vernunft wird siegen.

Der Reaktionär: Das ist der Traum der rechtschaffenen Ingenieure und Geschichtsphilosophen.

Der jugendliche Held: Es kann nicht anders sein.

Der Reaktionär: Doch. Es ist ja nicht gesagt, dass die Weltentwicklung einem rationalen Programm folgt, wie es die Hegelianer gern hätten. Schon der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt hat sich über solch ein Wunschdenken lustig gemacht. In den Weltgeschichtlichen Betrachtungen schreibt er: „Hegel sagt, der einzige Gedanke, den die Philosophie ,mitbringe‘, sei der einfache Gedanke der Vernunft, der Gedanke, dass die Vernunft die Welt beherrsche, dass es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei. Das Ergebnis der Weltgeschichte müsse demnach sein, dass sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen sei – was doch erst zu beweisen und nicht ,mitzubringen‘ war.“ 

Der jugendliche Held: Was willst du? Es wird doch immer besser. Wir werden immer intelligenter.

Der Reaktionär: Wir jonglieren mit immer mehr Bällen. Und verlieren immer mehr an Gewicht. Ich fürchte, Intelligenz wird maßlos überschätzt.

Der jugendliche Held: Und du unterschätzt die Begeisterung. Die Freude am Funktionieren.

Der Reaktionär: Da magst du recht haben. Letzten Endes sind dies sowieso nostalgische Überlegungen. Mir scheint, die Moderne sei dem kritischen Rationalismus, dem sie ihren Aufstieg verdankt, längst untreu geworden. Stattdessen huldigt sie einem arroganten Intellektualismus, in dessen abstrakten Funktionsräumen gar kein Platz mehr ist für Menschen aus Fleisch und Blut. In der humanen Welt heiligten die Menschen das Notwendige, weil es die Bedingung für ihre Freiheit darstellte. In der Geisterwelt der technologisch besorgten Freiheit schwindet notwendig das Bewusstsein des Humanen. Warum nicht Wunderkinder designen und herstellen, wenn es funktioniert. Warum nicht ewig und drei Tage leben, wenn es funktioniert. Warum nicht körperlos leben, wenn es funktioniert. All dies wird nicht funktionieren, denke ich. Aber auf meine Meinung kommt es nicht an. Es kommt auf deinen Glauben an. Und du willst nichts mehr wissen vom Heiligen. Du willst das animalische Wesen in dir abtöten. Du bist es leid, ein Mensch zu sein. Warum nur?

Der jugendliche Held: Ich kann nicht anders. Ich muss modern sein. Es ist meine Natur.

Leben.

Man hatte sie schon abgeschrieben, die Moderne, da steht sie plötzlich zur besten Sendezeit im Glitzerkleid vor einem und spricht Sätze wie diese: „Wir werden uns jetzt sicher nicht ausruhen. Es geht gleich weiter. Ich habe ja noch den Rest der Welt zu beglücken. Wir sind unaufhaltsam!“ Gut, die österreichische Dragqueen Conchita Wurst ist nur eine Schlagersängerin, aber an jenem Abend im Mai 2014, als sie sich nach dem Gewinn des European Song Contest den Fragen der Reporter stellte, wirkte sie wie eine Göttin. Und zwar nicht wie irgendeine. 

Sie wirkte wie die reinkarnierte Moderne. Dieses Feuer. Dieser Glanz. Dieser unbeirrbare Glaube, Teil einer weltgeschichtlichen Mission zu sein. „Wir sind unaufhaltsam.“ Der Satz könnte im Kommunistischen Manifest stehen. Saint-Just könnte ihn 1794 im Wohlfahrtsausschuss gesagt haben. Wahre Revolutionäre sagen solche Sätze, Visonäre also, die sich nicht lediglich für partikulare Interessen stark machen, sondern den Fortschritt der ganzen Menschheit erwirken wollen. Dabei mag sich das „Wir“ zunächst auf die Avantgarde der Bewegung beziehen, auf die revolutionären Citoyens, die klassenbewussten Proletarier oder die queer community – aber in einem weiteren Sinne sind „wir alle“ gemeint. Denn „Wir sind unaufhaltsam“ impliziert nicht notwendig das Niederwalzen von Gegnern. Eher als eine Drohung ist es ein Versprechen: Wir werden euch aufnehmen und anwachsen zu einem einzigen Organismus der wahrhaft Lebendigen. In letzter Konsequenz bedeutet es: Wir alle werden leben.

Auf dieses quintessentielle Versprechen der Revolution weist Heinrich Heine in seinem Aufsatz Verschiedenartige Geschichtsauffassung hin. „Das Leben ist weder Zweck noch Mittel; das Leben ist ein Recht“, schreibt er und fährt fort: „Das Leben will dieses Recht geltend machen gegen den erstarrenden Tod, gegen die Vergangenheit, und dieses Geltendmachen ist die Revolution.“ Indem Heine die Revolution als einen Akt der Aneignung von Gegenwart charakterisiert, als ein Tun, das sich weder an historischer Erfahrung noch an theoretischen Entwürfen orientieren muss, sondern allein auf „unsere lebendigsten Lebensgefühle“ vertrauen kann, ist er näher bei Bakunin als bei Marx. Auch trifft er eher den Geist der libertären Bewegungen des 21. Jahrhunderts als jenen der doktrinären Revolutionsunternehmungen des 20. Jahrhunderts.

Andererseits bedeutete das Recht auf Leben für den Dichter des 19. Jahrhunderts noch etwas ganz Elementares. Es bedeutete das Recht auf Brot. Mit dem Ausspruch „Le pain est le droit du peuple“ (Das Brot ist das Recht des Volkes) zitiert er Saint-Just und beteuert, dies sei „das größte Wort gewesen, das in der ganzen Französischen Revolution gesprochen wurde“.

Nun ist dieses Wort nicht ungehört verhallt – zumindest bei uns im reichen Westen muss niemand mehr Hunger leiden. Wenn hierzulande das Recht auf Leben eingefordert wird, geht es meistens um Ansprüche, die über die Sicherung der materiellen Existenz weit hinausgehen. Es geht um Bildung, Teilhabe, Respekt, Glück, um mehr Freiheit und Gleichheit, um effizientere Versorgung und demokratischere Prozesse, nicht zuletzt auch um größeren Komfort durch bessere Konsumartikel. In ökonomischer Hinsicht macht es ohnehin keinen großen Unterschied, ob es den Souverän nach mehr Werten oder mehr Waren gelüstet: In jedem Fall kommt dem Begehren als Stimulanz wirtschaftlichen Wachstums höchste Bedeutung zu. Gelüste haben eine systemerhaltende Funktion; wer sie befriedigt, tut seine Pflicht als Marktteilnehmer und lebt zugleich sein Menschenrecht.

Alles in allem ist es also immer noch der Glutkern der bürgerlichen Revolution, der den Fortschritt befeuert. Nein, die Moderne war nie tot. Sie brennt in den Herzen der Bürger, egal ob sie als LGBT-Aktivisten für die Einführung geschlechtsneutraler Pissoirs streiten oder als hedonistische Spießer auf frischen Erdbeeren zum Weihnachtsdessert bestehen. „Das Leben ist ein Recht“: Die revolutionäre Losung der Moderne dient noch den absurdesten Wünschen als Rechtfertigung und macht sie zu unwiderstehlichen Forderungen. Menschen erheben den Anspruch, sich mittels medizinischer Apparaturen selbst zu überleben? Man wird die Mittel bereitstellen. Sie wollen Kinder haben, die sie weder zeugen noch austragen können? Sie werden ihre Wunschkinder bekommen. Sie möchten sich das Leben so leicht machen, dass nur noch der von Internetkonzernen konfigurierte Geist übrigbleibt? Es wird geschehen.

Aber muss ich es deshalb gutheißen? Muss ich eine Entwicklung, selbst wenn sie unaufhaltsam wäre, auch noch schönreden? Die Vernunft gebietet es, zu sagen, was ist. Daher sage ich: Das Leben ist kein Recht. Jedenfalls nicht ohne weiteres. Zuallererst ist das Leben eine Gnade.

Um diesen Gedanken zu akzeptieren, muss man kein gläubiger Christ, Moslem oder Jude sein. Die Vorstellung, dass Gnade einen Gott voraussetzt, der sie walten lässt, führt in die Irre. Denn sobald wir einen allmächtigen Gott ins Spiel bringen, zelebrieren wir bloß unser Menschentum. Aber wir gehen nicht auf im Menschentum. Als animalisch-kosmische Wesen sind wir zugleich weniger und mehr als Menschen (Tierwesen sind sowohl vom Ganzen vollständig determinierte „Geschöpfe“ als auch das Ganze vollständig determinierende „Schöpfer“; die Welt, die sie beherrscht, ist ihr eigen). Als Naturwesen transzendieren wir das engstirnige Ideal des rationalen Ich-Sagers und Ideenschmiedes, auf das uns die Moderne – seit Platon – festlegen möchte.

Zwar sind wir nicht der bestirnte Himmel, nicht der Wind in den Bäumen, nicht das iPhone auf dem Bett und nicht die Geliebte in unseren Träumen – aber wir gehören allen diesen Wesen an, weil wir der Natur angehören, die alles umfasst. Wir können uns von dieser realen Angehörigkeit nicht lossagen. Wir können sie noch nicht einmal erklären. Aber wir können sie fühlen. Und wir können ihr einen menschlich-familiären Sinn geben und sie als Kindschaft ansehen. Wir werden dann das Geschick, dem wir unsere Geburt verdanken, weder als bloßen Zufall abtun noch als hohe Bestimmung verklären, sondern als Gnade erfahren.

Und wer das Leben als Gnade erfährt, heiligt es mit all seinen Gegebenheiten – auch mit seinen Gebrechen und Beschränktheiten.

Das Leben ist weder Mittel noch Zweck: Dieser Grundsatz gilt nach wie vor; nur gründet er sich für den ganzen Menschen auf ein Heiligtum und nicht lediglich auf den Vitalismus „unserer lebendigsten Lebensgefühle“. Setzt man diese Gefühle ins Recht, ohne sie durch die Erfahrung der Gnade zu läutern, werden die egoistischen Zwecke der Stärksten, Schlausten und Einseitigsten schnell zum Gesetz, das den Einsatz aller verfügbaren Mittel rechtfertigt. Dieses Gesetz beherrscht die bürgerliche Welt, es vergiftet unsere Gedanken und selbst unsere Wünsche. Dieses Gesetz macht den Liberalismus, den Kapitalismus, den Feminismus und den Rationalismus bei allen Meriten, die sich manche ihrer Protagonisten um den humanen Fortschritt erworben haben, letztlich zu Instrumenten der Verhunzung des Lebens.

Wer das Leben hoch hält, verteidigt es gegen die angemaßten Rechte der egoistischen Revolutionäre. In diesem Sinne bestreite ich die Legitimität des Konsumismus, der die tagtägliche Zerstörung unschätzbarer Werte zum Menschenrecht erklärt. Ich bestreite die Legitimität der Abtreibung, der Beihilfe zur Selbsttötung, der Reproduktionsmedizin mit ihren widerwärtigen Vernutzungstechniken. Ich bestreite die Legitimität der fortschreitenden Entmenschlichung der Welt durch Wissenschaft und Technologie.  

Das Recht eines Mannes, mit Bart und Frauenkleidern vor ein Millionenpublikum zu treten und auf seine Weise die Variabilität der Natur zu preisen, bestreite ich nicht. Conchita Wurst ist okay. Die Bewegung allerdings, der sie ihre Stimme leiht, ist es nicht. Die Auflösung der Geschlechterordnung führt zwar zu mehr Freiheit und Gleichheit. Aber es ist die Freiheit der Gnadenlosen und die Gleichheit der Entropie.